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360-Grad-Ökonomie: Die Unternehmen müssen schneller werden

Vertikale Marktsegmentierungen werden verschwinden, an deren Stelle treten horizontale Plattformen, Marktgrenzen werden porös, Wettbewerbsvorteile geringer, und von überall her droht Konkurrenz. Das sind Folgen des digitalen Wandels, den Henning Meyer, Geschäftsführer der Social Europe Publishing & Consulting GmbH und Visiting Fellow am Centre for Business Research (CBR) der University of Cambridge, als 360-Grad-Ökonomie bezeichnet. Er fordert eine aktive Industriepolitik, die vor allem eines bewirkt: Deutsche und europäische Unternehmen müssen schneller und agiler werden, um zu überleben.
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Christoph Witte

Chefredakteur IT Spektrum und BI-Spektrum


  • 29.03.2019
  • Lesezeit: 6 Minuten
  • 19 Views

JavaSPEKTRUM: Die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Arbeitswelt stehen im Fokus der Diskussionen. Was sehen Sie beim Blick in die Glaskugel?

Meyer: Bei den Diskussionen über die Auswirkungen der Digitalisierung auf den Arbeitsmarkt haben wir einen gewissen Sättigungspunkt erreicht. Die Antwort lautet schlicht: Wir wissen nicht, wie sie sich auswirkt. Je nach Modell kommt man zu unterschiedlichen Ergebnissen. Vom Armageddon auf dem Arbeitsmarkt bis hin zum Netto-Hinzugewinn von Arbeitsplätzen ist alles möglich. Laut Carl Benedikt Frey und Michael Osborne, die mit dem Papier „The future of employment“1 2013 die Diskussion ins Rollen brachten, liegt die Anfälligkeit für einen Jobverlust in der Summe der enthaltenen Tätigkeiten, die automatisiert werden können.

1 https://www.oxfordmartin.ox.ac.uk/downloads/academic/The_Future_of_Employment.pdf

Wie wirkt sich das auf die Struktur der Wirtschaft aus?

Aus der Perspektive eines Unternehmens sind diese Tätigkeiten nicht nur Jobs, sondern Teile des Produktionsprozesses. Und per Definition ist ein digitalisierbarer Prozess auch kopierbar und replizierbar – solange es Zugang zur selben Technologie und zu denselben Daten gibt. Dieser digitale Wandel hat Vor- und Nachteile. Der Vorteil: Die Kosten vieler Produktionsprozesse lassen sich senken. Der Nachteil: Wettbewerbsvorteile, die aus speziellem unternehmerischem Prozesswissen resultieren, können schwinden.

Dazu ein Beispiel: Maschinenbauunternehmen, die dieselben Roboter für ihre Produktionslinie verwenden, haben kaum mehr Wettbewerbsvorteile gegenüber der Konkurrenz. Die Wettbewerbsvorteile erodieren, weil sie nicht mehr wie bislang in unternehmensspezifischen Ressourcen gefangen sind, sondern auf die gleichen Ressourcen zurückgegriffen wird.

Können klassische Managementlehren diese Digitalisierungseffekte erklären?

Die Frage dabei ist: Was sind Differenzierungsfaktoren? Je mehr standardisiert und angepasst werden kann, umso schwieriger ist es, sich zu differenzieren. Wenn alle die gleichen Maschinen einsetzen, wird sich keine Differenzierung herausbilden. Deshalb muss im Unternehmen darauf geachtet werden, dass es nicht nur darum gehen darf, durch Wegfall von Arbeitsplätzen Kosten zu reduzieren. Diese Sichtweise kann mittelfristig andere strategische Probleme für Unternehmen bringen.

Geraten die bisherigen Kernkompetenzen der Unternehmen zur Nebensache?

Nein. Aber die Märkte und die Kernerfolgsfaktoren werden sich verändern. Beispiel Automobilindustrie: VW will eigenen Angaben zufolge in Zukunft nicht nur mehr Softwareentwickler einstellen als Maschinenbauer, sondern auch mit Microsoft kooperieren. Hintergrund ist, dass der Mobilitätsmarkt der Zukunft viel stärker von IT besetzt werden wird als bisher. Und die Engeneering-Komponente wird mit der Umstellung auf Elektromotoren einfacher, weil diese Motoren einfacher zu bauen sind als Verbrennungsmotoren. Die Unternehmensstrategie lautet folglich: Weg vom Image des ausschließlichen Automobilherstellers und hin zum Mobilitätsdienstleister. Denn das Auto selbst als einzige Ressource reicht nicht mehr. Vielmehr werden zusätzliche Services nötig, die einen Mehrwert mit diesem „asset“ generieren. Der IT kommt damit eine dominante Rolle zu.

Was ist in einer 360-Grad-Ökonomie zu beachten?

In einer 360-Grad-Ökonomie müssen Unternehmen in jede Nische schauen, jeden Trend analysieren und vor allem ihre Kernkompetenzen mit Technologien zusammenführen. Denn digitale Technologien werden die meisten Märkte durchdringen. Die Formel hierfür laut: IT + X. Auch das zeigt das Beispiel der Automobilhersteller: Gab es vorher einen Wettbewerb zwischen den Unternehmen derselben Branche, so drängen nun auch IT-Hersteller auf den Mobilitätsmarkt der Zukunft.

Ohne Kernkompetenzen?

Sie haben zunächst von Hause aus das, worauf es in Zukunft vermehrt ankommen wird: die Informationstechnologien – und das unter schlagkräftigen Markennamen wie Apple, Google oder Microsoft. Und das Problem fehlender Kernkompetenzen lässt sich dank ihrer Kapitalstärke lösen. Für sie wäre es wesentlich einfacher, sich das X einzuverleiben als umgekehrt.

Woher kommt die Dynamik dieser, eigentlich branchenfremden, Unternehmen?

Ihre Dynamik beziehen diese Unternehmen unter anderem aus den Benutzernetzwerk-Effekten, die durch Daten generiert werden. Facebook beispielsweise hat ja nicht nur einfach 2,2 Milliarden Nutzer, sondern auch deren Daten – und damit Wettbewerbsvorteile, um in andere Bereiche vorzudringen. So hatte Facebook beispielsweise in der Weihnachtssaison im Kaufhaus Macey´s in New York einen Popup-Store eröffnet – und verkaufte unter anderem Soßen für Hamburger. Wie anarchisch die Ausbreitung auf andere

Geschäftsfelder sein kann, lässt sich auch an Amazon beobachten. Das Unternehmen mutierte vom Buchhändler zum Cloud-Anbieter und kaufte nun die Supermarktkette Whole Foods.

Viele dieser Internet-Giganten spreizen derzeit ihre Fühler – und nutzen immaterielle Vermögenswerte: ihren Markennamen. Die Benutzernetzwerk-Effekte zusammen mit der Datengrundlage werden für sie zum Hebel, mit dem sie sich horizontal ausbreiten: Die Daten aus Bereich A dienen dazu, im Bereich B Fuß zu fassen.

››Wir wissen nicht, wie sich die Digitalisierung auf den Arbeitsmarkt auswirkt‹‹

Sie fordern eine konsequentere deutsche und europäische Industriepolitik, um nicht ins Hintertreffen zu geraten. Was sind die drei wichtigsten Aufgaben, die eine aktive Industriepolitik erfüllen müsste?

Die 360-Grad-Ökonomie der Zukunft setzt einen ganzheitlichen Ansatz voraus, bei dem Schnelligkeit und Agilität gefragt sind. Noch gibt es viele Schwachstellen, die Unternehmen ausbremsen und die sie nicht aus eigener Kraft schließen können, beispielsweise bei der Infrastruktur wie der Versorgung mit Breitbandanschlüssen. Wichtig ist jedoch vor allem: Die Politik muss

  • Grundlagenforschung befeuern – mit international adäquaten Investitionen;
  • die Ergebnisse dieser Grundlagenforschung in Märkte transfe-rieren – und das besser und schneller, als das heute vonstattengeht. Über Audits beispielsweise lässt sich feststellen, welche Lösungen funktionieren und welche dementsprechend gefördert werden;
  • mit industriepolitischen Komponenten Wettbewerbsvorteile generieren. Start-up-Zentren könnten sich beispielsweise vernetzen und kooperieren. Und wenn auch die führenden europäischen Länder enger zusammenarbeiten würden, könnte das einen Pull-Effekt für europäische Länder haben, die noch ganz unten mitspielen. Nötig sind langfristige Strategien – auch für die Förderungen, beispielsweise mehr für KI.

››Benutzernetzwerk-Effekte zusammen mit der Datengrundlage werden für Internet-Giganten zum Hebel‹‹

Gibt es dann eine Chance gegen Tech-Giganten?

Es ist nie ausgemacht, dass Tech-Riesen für ewig in ihrem Sattel sitzen. Die erste Generation von Internet-Giganten hat schon das Zeitliche gesegnet, dazu zählen myspace oder Altavista. Und wenn es größere Skandale gibt – siehe Facebook und Cambridge Analytica – können auch aktuelle Marktführer implodieren. Das ist Teil der 360-Grad-Ökonomie: Gefahren lauern überall.

Henning Meyer ist Sozialwissenschaftler, Berater und Analyst. Er ist Chefredakteur der Online-Publikation Social Europe, Direktor der Netzwerk-Beratung New Global Strategy und Research Associate der Public Policy Group an der London School of Economics and Political Science. Er schreibt regelmäßig für Publikationen wie den Guardian oder die ZEIT. Darüber hinaus kommentiert er wirtschaftliche und politische Entwicklungen für verschiedene internationale TV-Sender.

Das Interview führte Christoph Witte, E-Mail: cwitte@wittcomm.de

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Christoph Witte

Chefredakteur IT Spektrum und BI-Spektrum
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Christoph Witte ist Gründer der Wittcomm Agentur für IT, Publishing und Kommunikation. Darüber hinaus ist er Chefredakteur von IT Spektrum sowie BI-Spektrum und wirkt zudem bei dem Magazin JavaSPEKTRUM mit.


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