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„Agilisierung ist vor allem eine Frage der Kultur“

Stefan Latuski, CEO des IT-Systemhauses der Bundesanstalt für Arbeit (BA) und Verantwortlicher für die IT-Strategie der BA, hat vor knapp einem Jahr mit der weiteren Digitalisierung und Automatisierung der BA eine große Aufgabe übernommen. BI-Spektrum sprach mit ihm über die Unterschiede zwischen Behörden und Unternehmen, über Organisationsveränderungen und darüber, worauf es bei der Agilisierung ankommt.

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Christoph Witte

Chefredakteur IT Spektrum und BI-Spektrum


  • 20.06.2022
  • Lesezeit: 8 Minuten
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Sie haben vor knapp einem Jahr Ihren Job als Geschäftsführer des IT-Systemhauses der Bundesagentur für Arbeit begonnen. Davor waren Sie CIO von Siemens Mobility. Sie haben also gleich zwei Mal die Seiten gewechselt: von der Demand-Seite auf die Supply-Seite und von der Wirtschaft in eine Behörde, und zwar gleich in die größte Behörde Deutschlands. Was ist anders?

Latuski: Viele Herausforderungen sind vergleichbar. Die Unterschiede liegen im Detail. Verglichen mit den Aufgaben in meinem letzten Job, zum Beispiel was Automatisierung und Digitalisierung betrifft oder auch das Thema Agilisierung der Organisation, unterscheiden sie sich auf einer bestimmten „Flughöhe“ nicht so sehr. Wenn man tiefer einsteigt, lässt sich aber durchaus erkennen, dass Behörden gegenüber Unternehmen noch Nachholbedarf haben.

Welche großen Themen treiben Sie zurzeit um?

Latuski: Das ist zum einen die Durchgängigkeit der Automatisierung und Digitalisierung von Prozessen. Wir haben in den letzten Jahren – zuletzt auch pandemiebedingt – sehr viele gute Dinge vorangetrieben, sowohl für die Bürger und Bürgerinnen als auch für unsere Mitarbeitenden. Aber wir sind noch nicht an dem Punkt, dass wir unsere Prozesse durchgängig digitalisiert und automatisiert haben. Da gibt es noch einiges an Potenzial, das es noch zu heben gilt. Eine andere große Frage ist die nach der Agilisierung der Organisation. Die Ablauf- und Aufbauorganisation des IT-Systemhauses ist klassisch an Plan-Build-Run orientiert. Natürlich haben wir uns in den letzten Jahren auch intensiv mit der Agilisierung befasst, vor allem in Bezug auf die agile Softwareentwicklung. Wir arbeiten heute bereits in einer Großzahl unserer Softwareprojekte nach der Scrum-Methode, aber wir haben unsere Aufbau- und Ablauforganisation bisher noch nicht sinnvoll nachvollzogen.

Das dritte große Thema ist für uns die künftige Lieferantenstrategie. Damit geht auch die Frage nach der Make-or-Buy-Strategie einher.

Wo liegt da das Problem?

Latuski: Unsere Lieferantenstrategie ist historisch gewachsen. Wir haben aus verschiedenen Gründen einen sehr hohen Anteil an externen IT-Dienstleistern, die für uns die verschiedensten Dinge machen. Da ist bisher das meiste opportunistisch entschieden und nicht systematisch betrachtet worden. Wir wollen künftig bewusst entscheiden, was wir nach außen geben und was wir selbst machen wollen. Das hat sehr stark mit unserer strategischen Aufstellung zu tun. Darüber hinaus sind die Verträge mit den Dienstleistern häufig Time-and-Material-basiert. Managed Services oder Werksverträge haben wir zwar auch, aber in sehr viel geringerem Umfang. Als Grundlage für eine schlüssige Make-or-Buy-Strategie geht es zunächst einmal darum, zu klären, was wir als IT-Systemhaus der BA als unsere Kernkompetenzen erachten. Da muss natürlich auch die Frage geklärt werden, was wir perspektivisch in Zukunft selbst erbringen wollen, was wir mit Partnern machen möchten. Dabei muss auch definiert werden, in welchen vertraglichen Konstellationen wir das tun wollen.

Sie haben von der klassischen Plan-Build-Run-Organisation gesprochen. Aber auch die klare Trennung von Demand und Supply in der BA ist klassisch. Lässt sich so eine klare Trennung in agilen Zeiten noch durchhalten?

Latuski: Nominal trennen wir klar zwischen Anforderung und Versorgung. Aber de facto ist das System heute deutlich durchlässiger geworden als bei Gründung des Systemhauses. Das hat verschiedene Ursachen. Zum einen trennt das Plan-Build-Run im Systemhaus durch Agilisierung, (DevOps, Continuous Delivery etc.) nicht mehr so scharf zwischen Entwicklung und Operations. Zum anderen habe ich eine Doppelrolle: Neben meiner Arbeit als Geschäftsführer des IT-Systemhauses der BA bin ich in der Agentur selbst auch als Bereichskoordinator verantwortlich für die IT-Strategie. Aber wir haben natürlich noch ein Stück weit ein Auftraggeber-Auftragnehmer-Verhältnis zwischen BA und ihrem Systemhaus. Dieses Verhältnis werden wir im Sinne einer engeren Zusammenarbeit weiterentwickeln.

In einem Vortrag, den Sie vor CIOs in einer Veranstaltung von VOICE – Bundesverband der IT-Anwender hielten, sagten Sie auch, dass Sie sich eine Agilisierung vorstellen können, die über die Softwareentwicklung hinausgeht. Wie haben Sie das gemeint?

Latuski: Organisatorisch schwebt uns einerseits ein typischer Plattformbetrieb vor, auf der anderen Seite möchten wir gern mit Ende-zu-Ende-Teams arbeiten, die auf und für diese Plattform entwickeln und ihre Services dort auch betreuen. Sie übernehmen die komplette Verantwortung im Sinne eines Plan-Build-Run.

Im Sinne einer Produkt-IT?

Latuski: Ja, im Sinne eines produktzentrischen Modells. Wir haben unterschiedliche Produkte. Es geht darum, die Organisation so zu gestalten, dass aus den Teams vollumfänglich die Verantwortung für diese Produkte wahrgenommen werden kann.

Welchen Zeitrahmen stellen Sie sich dabei vor?

Latuski: Wir arbeiten noch an dem Konzept dafür. Das werden wir im Spätsommer/Herbst dieses Jahres so weit fertig haben. Allerdings kann ich noch nicht sagen, wie lange der Abstimmungsprozess bei uns dauern wird, bis wir mit der Umsetzung des neuen Konzepts beginnen können. Da unterscheiden sich Wirtschaft und Behörden stark. Wir haben viel mehr Gremien, mit denen wir unser Vorgehen abstimmen. Dabei darf man natürlich auch unsere Größe nicht vergessen: Wir haben über 140.000 Mitarbeitende, die von solchen Umstellungen betroffen sind.

Was können Sie in Richtung Agilisierung heute schon tun, ohne den organisatorischen Rahmen groß verändern zu müssen?

Latuski: Da geht einiges. Aber vielleicht sollten wir kurz darüber sprechen, was denn diese vielzitierte Agilisierung tatsächlich ausmacht. Neben Organisation und Struktur ist für mich Agilisierung nämlich vor allem eine Frage der Kultur: Wie verstehen sich Führungskräfte? Wie funktioniert das Zusammenarbeitsmodell? Wie steht es mit den Hierarchieebenen? Wie funktioniert die Zusammenarbeit zwischen den jeweiligen Managementbereichen? etc. Das sind alles Fragen, an denen wir jetzt schon sehr aktiv arbeiten können. Das gilt auch für die Kommunikationskultur, Fehlerkultur und, und, und. Das sind alles Dinge, die nicht mit Gremien abgestimmt werden müssen, sondern die man einfach tun muss. Da sind vor allem auch die Führungskräfte und da bin auch ich gefragt. Wir haben schon vor einigen Monaten begonnen, daran zu arbeiten. Wenn man Agilisierung ernst nimmt, dann ist das mehr, als Scrum einzuführen.

Wenn man an den deutschen Beamten denkt, fallen einem nicht sofort die Attribute Innovations- und Veränderungsbereitschaft ein. Deshalb die Frage: Wie werden diese Themen bei den Mitarbeitenden aufgenommen?

Latuski: Ich muss jetzt erst einmal eine Lanze für meine Kolleginnen und Kollegen in der BA brechen. Die BA und insbesondere das IT-Systemhaus der BA sind im behördlichen Kontext durchaus modern unterwegs. Kaum jemand entspricht dem klassischen Beamtenbild. Die meisten hier wünschen sich eine Veränderung, sehnen sie regelrecht herbei. Sie haben in der Vergangenheit vielleicht nicht ausreichend Gehör gefunden. Allein im IT-Systemhaus haben wir 2.000 Mitarbeitende. Sehr viele von ihnen stehen den Veränderungen, den bereits durchgeführten und den kommenden, positiv gegenüber. Aber natürlich gibt es auch eine eher abwartende Fraktion, die erst einmal schaut, ob den Ankündigungen auch Taten folgen. Nur wenige lehnen die Veränderungen ab. Ich würde sagen, das Verhältnis von Enthusiasten, Abwartenden und Skeptikern ist bei uns genauso wie in jedem anderen Unternehmen auch. Letztlich ist es die Aufgabe des Managements, das Team von den Veränderungen zu überzeugen. Dazu muss man den Mehrwert der Veränderungen aufzeigen.

Neben der Agilisierung beschäftigt Sie das Thema Ende-zu-Ende sehr. Sie haben erzählt, dass zum Beispiel die auf den Kunden ausgerichteten Prozesse für diesen zum Teil schon ohne Medienbruch online zur Verfügung stehen. Gleichzeitig gibt es teilweise im Backend aber noch manuelle Prozesse, die sehr viel Aufwand erfordern und die Antwortzeiten enorm verlängern. Was wird sich in diesem Bereich tun?

Latuski: Das Onlinezugangsgesetz verpflichtet uns, unsere Services bis Ende 2022 in digitaler Form bereitzustellen. Wir sind eine der wenigen Behörden, die das auch schaffen werden: Für jeden Service der BA werden unsere Kunden Anfang 2023 ihre Anträge digital stellen können. Aber bei der Bearbeitung dieser Anträge sind wir noch nicht voll digitalisiert. Wir haben viele moderne Verfahren, die das können, aber wir haben viele alte Verfahren – die 20 Jahre oder älter sind –, die das nicht können. Demzufolge haben wir eine Landschaft mit mehreren Medienbrüchen. So ist der Bearbeitungsprozess noch teilweise manuell, es müssen Daten von einem ins andere System übertragen werden, bis dann am Ende des Tages ein Bescheid an den Kunden gegeben werden kann. Wir haben vor, in den kommenden Monaten die Prozesse, die auf der Kundenseite bereits digitalisiert sind, auch im Backend zu digitalisieren und medienbruchfrei zu gestalten.

Das ist aber ein richtig dickes Brett, oder?

Latuski: Ja, natürlich. Aber wir müssen damit beginnen, das Potenzial zu heben. Dazu sind wir gegenüber unserem Auftrag, unseren Kunden, aber auch uns als Organisation verpflichtet. Denken Sie nur an den demografischen Wandel. Wir müssen in Zukunft unsere Aufgaben mit deutlich weniger Mitarbeitenden erledigen können, weil wir in den nächsten zehn Jahren viel Personal und Know-how verlieren werden. Insofern müssen wir automatisieren und digitalisieren.

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Christoph Witte

Chefredakteur IT Spektrum und BI-Spektrum
Zu Inhalten

Christoph Witte ist Gründer der Wittcomm Agentur für IT, Publishing und Kommunikation. Darüber hinaus ist er Chefredakteur von IT Spektrum sowie BI-Spektrum und wirkt zudem bei dem Magazin JavaSPEKTRUM mit.


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