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Auf Lesereise mit Frit und Fred

Vor einigen Jahren hat New Work das Repertoire von Agilisten erobert. Seitdem beschäftigen sich immer mehr Menschen mit der Frage, wie New Work in Unternehmen eingeführt werden kann und wie Unternehmen es nutzen können. Warum das dazu führt, dass die Idee des New Work von Frithjof Bergmann nun das gleiche Schicksal ereilt, dem vor 100 Jahren die Ideen von Frederick Taylor anheimfielen, soll diese Kolumne beleuchten.
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Gerrit Beine

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  • 16.12.2022
  • Lesezeit: 11 Minuten
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Texte lesen

It‘s like putting the team members on the second floor, removing the ladder, and telling them to jump or else. I believe creativity is born by pushing people against the wall and pressuring them almost to the extreme.

Legt man Menschen dieses Zitat vor und erklärt, dass sei eine typische Taylor-Aussage, stimmen sie mir in der Regel lautstark zu. Es geht darum, Menschen unter Druck zu setzen, Leistung aus ihnen herauszupressen. Alles das, was die verbreiteten Vorurteile gegenüber Taylor bestätigt. Die Tatsache, dass dieses Zitat aus dem Artikel stammt, der Scrum inspiriert hat [TaNo86], überrascht Leute jedes Mal aufs Neue. Das Beispiel zeigt zwei Dinge, die häufig beim Lesen von Texten passieren: Erstens neigen Menschen dazu, Bestätigung unserer Vorurteile zu suchen, und nehmen diese gerne unhinterfragt an. Und zweitens ist das, was Autoren schreiben, nicht identisch mit dem, was sie meinen, und muss nicht unbedingt etwas mit dem zu tun haben, das Leser daraus verstehen.

Taylor lesen

Taylors „Grundsätze wissenschaftlicher Betriebsführung“ [Tay] heute zu lesen und einzuordnen, bedarf einiger Prämissen. Zunächst sollten die Leser sich bewusst machen, dass das Buch vor mehr als einhundert Jahren geschrieben wurde. Damals waren andere Zeiten, die Welt sah für die Menschen anders aus. Es galten andere Werte und Normen, andere Gesetze und Regeln im menschlichen Miteinander. Die Menschen hatten auf den ersten Blick andere Probleme, auf den zweiten Blick wussten sie einfach andere Dinge über die Welt, als es bei uns heute der Fall ist. Daher benutzten sie auch Sprache anders. Die Bedeutung von Worten hat sich zum Teil gewandelt und einige Formulierungen, die damals äußerst wertschätzend waren, sind heute vielleicht sogar beleidigend. Solche bewussten Gedanken über die Art und Weise, den Text zu betrachten, lassen einen als Leser eine Haltung einnehmen, die zwar immer noch nicht sicherstellt, dass man versteht, was Taylor gemeint hat, die aber immerhin zulässt, dass man seine Worte einordnen kann.
Taylor war ein Menschenfreund und seiner Zeit mit einigen Beobachtungen weit voraus. Und er hätte, wäre er hundert Jahre später geboren worden, die Prinzipien des agilen Manifests geteilt. Bereits in der Einleitung schreibt er:

Wir sehen, wie die Wälder dahinschwinden, die Wasserkräfte vergeudet, der Boden und seine Schätze in das Meer gewaschen werden; die Erschöpfung der Kohlen- und Eisenerzlager ist nur noch eine Frage der Zeit.

Dieses Zitat erstaunt die Menschen, die Taylor nur vom Hörensagen her kennen, immer am meisten, denn es klingt mehr nach Fridays-for-Future als nach dem Mann, der als Begründer des Taylorismus in die Geschichte eingegangen ist. Dennoch war diese Beobachtung ein wesentlicher Grund für Taylor, sich mit der Effizienz von Organisationen zu beschäftigen. Diese Motivation ging leider in den Goldenen Zwanzigern und im wirtschaftlichen Aufschwung der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg verloren, weil sie plötzlich nicht mehr relevant war. Taylor war sich auch der Tatsache bewusst, dass Verantwortung für die Ergebnisse eines Unternehmens von allen Mitarbeitenden übernommen werden muss. Im vierten Prinzip seiner wissenschaftlichen Betriebsführung schreibt er:

Arbeit und Verantwortung verteilen sich fast gleichmäßig auf Leitung und Arbeiter. Die Leitung nimmt alle Arbeit, für die sie sich besser eignet als der Arbeiter, auf ihre Schulter, während bisher fast die ganze Arbeit und […] Verantwortung auf die Arbeiter gewälzt wurde.

Er stößt damit einer Änderung der Verteilung von Verantwortung an, die heute ebenfalls oft gefordert wird – nur aus der anderen Richtung. Taylors Beobachtung war, dass die Managementebene in Unternehmen viel zu wenig Verantwortung trug, die Arbeiter hingegen den größten Teil. Die Arbeiter waren es auch, die in aller Regel mit den Konsequenzen leben mussten. Wir dürfen die Entlastung der Arbeiter von einem großen Teil der Verantwortung und der negativen Konsequenzen heute durchaus als Errungenschaft betrachten, zu der Taylor seinen Teil beitrug. Auch die gerne zitierte Ausbeutung von Arbeitskraft war nichts, das Taylor befürwortet hat. Zwar macht er in seinem Buch immer wieder deutlich, dass es ihm in erster Linie um die wirtschaftliche Gesundheit von Unternehmen geht. Aber er hat erkannt, dass es notwendig ist, darauf hinzuweisen,

dass der Arbeiter keinesfalls zu einer Schnellarbeit angehalten werden darf, die seiner Gesundheit schaden könnte.

Verfechter von Sustainable Pace sind bei solchen Aussagen irritiert, steht Taylors Name im Taylorismus doch eher für das Gegenteil. Noch deutlicher wird Taylor an anderer Stelle, wenn er sagt, sein Ziel ist es nicht, herauszufinden,

... welches Maximalquantum an Arbeit ein Arbeiter während einer kurzen Zeit zu leisten imstande ist, sondern […]; was man jahraus, jahrein täglich von einem Arbeiter erwarten kann, ohne dass er dabei körperlichen oder seelischen Schaden erleidet.

Die Vermeidung des körperlichen Schadens von Arbeitern war eine eher gewerkschaftliche Position, die Vermeidung seelischen Schadens gelangte erst in den letzten Jahrzehnten durch Themen wie Achtsamkeit wieder in den Fokus der Aufmerksamkeit. Es gibt noch diverse Stellen in Taylors Buch, in denen er „moderne“ Konzepte wie Servant Leadership, Go-See-Management, Vermeidung von Verschwendung, Psychological Safety und die Anwendung empirischer Methoden zur kontinuierlichen Verbesserung der Arbeitsprozesse beschreibt. Die kurzen Ausschnitte sollen bis hierhin erst einmal genügen. Die wesentliche Frage, die sich stellt, ist: Wie konnte aus dem durchaus menschenzugewandtem Scientific Management Taylors der Taylorismus werden, den viele Verfechter von New Work und Agilität als Feindbild sehen. Interessanterweise liefert Taylor auch darauf bereits eine Antwort, wenn er schreibt:

Der äußere Verwaltungsmechanismus darf nicht mit dem Wesentlichen des Systems, mit der ihm zugrunde liegenden Philosophie, verwechselt werden.

Er warnt genau vor dem, was dann tatsächlich passierte. Die Mechanik des Scientific Management wurde auf Betriebe ausgerollt, verstärkt noch durch die Ideen von Henry Ford und einer schon damals starken Lobby für Shareholder Value. Die eigentlichen Ideen gerieten in Vergessenheit und konnten fast hundert Jahre später, in einem neuen Gewand und neuem Kontext als agiles Manifest wieder auferstehen.

Bergmann lesen

Im Gegensatz zu Taylor zeichnet Bergmann mit „Neue Arbeit“ [Ber17] ein ganzes Gesellschaftsmodell. Bergmanns Ziel ist es nicht, Prozesse oder Strukturen in Organisationen durch von ihm entwickelte Methoden zu verändern, sondern die Art und Weise, wie Menschen Arbeit begreifen und ausführen. Dazu beschreibt Bergmann in seinem Modell1 drei Arten von Arbeit:

  1. Lohnarbeit, die Arbeit, für die wir bezahlt werden,
  2. Arbeit zur Selbstversorgung,
  3. Arbeit, die wir wirklich, wirklich wollen.

Die zweite Art von Arbeit soll im Folgenden ignoriert werden, weil sie in dieser Betrachtung keine Rolle spielt2. Der Fokus liegt nur auf Lohnarbeit und der Arbeit, die wir wirklich, wirklich wollen. Die große Leistung Bergmanns besteht darin, mit seinen Projekten Strukturwandel für Betroffene erträglich gemacht zu haben. Nachvollziehen lässt sich das beispielhaft am überraschenden und schnellen Strukturwandel in den neuen Bundesländern nach der Wende. Bergmann antizipierte die negativen Folgen eines solchen unkonzertierten Strukturwandels bereits etliche Jahre früher und beschritt einen anderen Weg, um damit umzugehen. Er organisierte Projekte, bei denen nicht die eine Hälfte der Menschen ihren Job verlor und anschließend über Sozialtransfers die andere Hälfte der Menschen mitversorgen musste. Vielmehr sorgte er für eine Verteilung der Lohnarbeit auf alle Arbeitenden, bei denen alle ihre Arbeitszeit für die Lohnarbeit anteilig reduzierten. Damit gab es nicht die einen und die anderen und der prototypische Konflikt des Strukturwandels wurde vermieden. Im Falle von Bergmanns Projekten hat das gut funktioniert, weil die Lohnarbeit, die aufgeteilt werden musste, zu sehr niedrigen Transaktionskosten übergeben werden kann. Die Rotation von Schichten in der industriellen Produktion3 ist ein üblicher Vorgang und kann erweitert werden. Mitarbeiter einer Schicht können den Staffelstab einfach an die nachfolgende Schicht übergeben, ohne dass es einer großen Einweisung bedarf. Statt drei Schichten mit jeweils acht Stunden können so auch sechs Schichten mit jeweils vier Stunden laufen. Würde man das Schichtsystem von Grund neu aufbauen, wäre die einmalige Investition am Anfang natürlich höher, weil Ausrüstung für doppelt so viele Menschen beschafft werden müsste und diese Menge Menschen ausgebildet werden müssten. Da diese Menschen aber in Bergmanns Kontext alle schon Beschäftigte waren, fiel das nicht mehr ins Gewicht. Die frei gewordene Zeit konnten die Menschen nun mit den anderen beiden Arten von Arbeit verbringen, insbesondere mit der Arbeit, die wir wirklich, wirklich wollen. Der entscheidende Faktor für den Erfolg von Bergmanns Projekten war die Tatsache, dass die Lohnarbeit leicht und zu geringen Kosten auf mehrere Menschen verteilt werden konnte. Der Kontext, in dem New Work heute betrachten wird, ist ein anderer als der von Bergmanns Projekten. Im heutigen Kontext gibt es nicht das Problem, dass auf absehbare Zeit die Lohnarbeit ausgehen wird – eher im Gegenteil, viele Unternehmen beklagen einen Fachkräftemangel4. Im Kontext der Wissensarbeit, wozu hier der Einfachheit halber alle Tätigkeiten gezählt werden, die mit der Entwicklung von materiellen oder immateriellen Gütern zu tun haben, gibt es eine ganz andere Herausforderung zu bewältigen. Bergmanns Modell lässt sich hier aufgrund der Struktur der Arbeit nicht ohne Weiteres adaptiert werden. Denn auch, wenn in der Wissensarbeit die einmaligen Kosten verhältnismäßig gering wären, sind die Transaktionskosten für die Übergabe von Arbeit an eine andere Person immens hoch. Das lässt sich leicht an den Experimenten zu den globalen Software Factories Ende der 90er nachvollziehen, die getrost als gescheitert betrachtet werden können. Wenn nun noch moderne, hochgradig interaktive Methoden hinzukommen, bei denen Erkenntnisprozesse aus der Interaktion der Beteiligten entstehen, können diese Beteiligten nicht einfach nach Stechuhr zum Schichtende ausgewechselt werden. Es ist auch nicht sinnvoll möglich, mehr als eine bestimmte Menge an Personen an einem derartigen Erkenntnisprozess zu beteiligen, weil der Kommuniktions-Overhead zu groß würde. Kurzum: Die Verteilung von Lohnarbeit in der Wissensarbeit ist nicht nach dem von Bergmann beschriebenen Modell möglich.

1) Bergmann selbst sieht das Ergebnis seiner Arbeit weniger als Modell, der Begriff ist als Bezeichnung für das, was Bergmann geschaffen hat, aber aus meiner Sicht der am besten passende.
2) Die Wirkung der 2. Art von Arbeit muss weiter betrachtet werden, weil sie einigen Errungenschaften entgegenläuft, die die Spezialisierung in der arbeitsteiligen Gesellschaft mit sich bringt. Sie erzeugt zwangsläufig Paradoxien, was Themen wie Nachhaltigkeit, Qualität der Erzeugnisse und Energieeffizienz angeht, um nur einige zu nennen. Diese Paradoxien müssen kritisch betrachtet und untersucht werden – um eventuell aufgelöst zu werden.
3) Bergmanns Projekte beschäftigten sich zu Beginn fast ausschließlich mit dem Niedergang der amerikanischen Automobilproduktion.
4) Dieser ist Gegenstand etlicher Diskussionen. Inwiefern dieser existiert oder nicht, soll hier nicht weiter betrachtet werden.

Die Geister, die ich rief

Was nun passiert, ist im Sinne Bergmanns ebenso fatal wie im Sinne Taylors. Um das Paradox der Übertragung von Bergmanns Methoden auf die Wissensarbeit zu lösen – ohne sich der Ursache der Paradoxie bewusst zu sein –, wird die Lohnarbeit zur Arbeit, die wir wirklich, wirklich wollen, erklärt. Fatal ist das deshalb, weil es die Suche nach Sinn in der Arbeit – deshalb ja die Arbeit, die wir wirklich, wirklich wollen – externalisiert. Die Verantwortung für das Erzeugen von Sinn wird an die Organisation, für die man arbeitet, delegiert. Der Product Owner soll mit seiner Vision ebenso Sinn stiften wie die Geschäftsführerin mit ihrer Strategie. Beide können aber naturgemäß nur einen Zweck beschreiben. Ob dieser Zweck Sinn stiftet, ist eine zutiefst individuelle Frage und hängt von den einzelnen Mitarbeitenden ab. Im besten Fall sind alle Menschen in der Organisation etwas genervt und machen einfach weiter ihren Job. Im schlimmsten Fall entsteht eine informelle Struktur (der Begriff „Kultur“ wird hier bewusst vermieden), die die Menschen in der Organisation in ein Denkschema zwängt, das genau das Gegenteil von dem ist, was sowohl Taylor als auch Bergmann erreichen wollten. Der Zwang, sich zu einem tieferen Sinn der eigenen Arbeit zu bekennen, wird ein Kriterium zur Mitgliedschaft in einer Organisation. Aus Bergmanns Ideen zu Neuer Arbeit wird mit New Work ein Bergmannismus, ein Taylorismus 2.0. Und der ist diesmal viel problematischer, denn er will nicht nur die Arbeitskraft der Menschen, er will in ihre Köpfe.

Weitere Informationen

[Ber17]
F. Bergmann, Neue Arbeit, neue Kultur, Neue Edition 2017, Arbor Verlag

[TaNo86]
H. Takeuchi, I. Nonaka, The New New Product Development Game, Harvard Business Review, Jan-Feb 1986

[Tay]
F. W. Taylor, Die Grundsätze wissenschaftlicher Betriebsführung, Deutsch von R. Roesler, 1913 Oldenburg Verlag, Reprint 2011 Salzwasser Verlag

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Gerrit Beine

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Gerrit Beine ist Trainer und Berater bei INNOQ. Er arbeitet am liebsten an der Schnittstelle zwischen Softwarearchitekturen und Organisationen und verbindet Informatik mit Soziologie und Organisationsforschung.

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