Mitglieder von Organisationen entscheiden selbst, wann und wie sie handeln. Organisationen haben auf diese Eigenständigkeit ihrer Mitglieder nur eingeschränkt Einfluss. Zwar können sie unerwünschtes Handeln sanktionieren – die Ultima Ratio, ein Ende der Mitgliedschaft herbeizuführen, ist aber keine Option, die eine Organisation häufig ziehen kann. Die Mitglieder der Organisation ihrerseits haben zwei sehr effektive Optionen, die Organisation zu sanktionieren: Zu ihren Handlungsoptionen gehören sowohl einfach nichts zu tun als auch Dienst nach Vorschrift zu machen. Insbesondere Letzteres ist die wirkungsvollste Methode, jede Organisation zum Stillstand zu bringen. Auf diese Weise gibt es in jeder Organisation eine Balance, sodass einerseits die Mitglieder im Sinne der Organisation handeln und andererseits die Organisation kontinuierlich für ein stabiles Umfeld sorgt, in dem das auch möglich ist.
Entscheidungsräume
Damit das klappt, formulieren Organisationen ihren Mitgliedern Rahmen, innerhalb derer sie selbst entscheiden können. Diese Rahmen erlauben es den Mitgliedern, Entscheidungen im Sinne der Organisation zu treffen, ohne jede einzelne Entscheidung abstimmen zu müssen. Die durch diese Rahmen gebildeten Entscheidungsräume existieren in jeder Organisation, manchmal formell definiert, manchmal nur informell. Ein Beispiel für formal definierte Entscheidungsräume sind Ermessensfragen in Behörden. Hier ist teilweise schon in Gesetzestexten festgelegt, welcher Spielraum bei einer Entscheidung existiert. Informell definierte Entscheidungsräume lassen sich recht gut in Vertriebsorganisationen beobachten. Die Frage, wie viel Rabatt einem Kunden gewährt werden sollte, ist selten formal irgendwo festgelegt. Stattdessen spielen bei solchen Entscheidungen eine Vielzahl von Parametern zusammen, die am Ende zu einem für die Organisation akzeptablen Ergebnis führen.
Entscheidungsprämissen
Um mit diesen Entscheidungsräumen – formell oder informell – zu gestalten, nutzen Organisationen Entscheidungsprämissen. Das Konzept von Entscheidungsprämissen wurde von Herbert Simon und James March bereits in den 1950ern beschrieben und ist in jeder Organisation vorhanden – auch wenn es außerhalb der Wissenschaft kaum jemand so bezeichnet. Stefan Kühl hat das Konzept der Entscheidungsprämissen 2018 noch einmal konsequent weitergedacht und ausgearbeitet (siehe Abbildung 1). Eine Entscheidungsprämisse besagt, wie in einer Organisation bei einer bestimmten Klasse von Problemen im Prinzip entschieden werden soll. Damit sind Entscheidungsprämissen ein Mechanismus, der es Organisationen erlaubt, nicht jede einzelne Entscheidung zentral treffen zu müssen, und sie definieren so die oben beschriebenen Entscheidungsräume. Nach Stefan Kühl kann man auf einer ersten Ebenen zwei Arten von Entscheidungsprämissen unterscheiden:
- die entschiedenen Entscheidungsprämissen,
- die nicht entschiedenen Entscheidungsprämissen.
Erstere sind weitestgehend selbsterklärend: Entscheidungsprämissen, bei denen die Organisation festgelegt hat, wie in ihrem Sinne bei einer definierten Klasse von Problemen zu entscheiden ist, sind entschiedene Entscheidungsprämissen. Ein Beispiel für eine solche entschiedene Entscheidungsprämisse kann sein, dass ein Softwareunternehmen festlegt: Alle Projekte müssen ein Open-Source-SCM-System benutzen. Welches das ist, bleibt dem Projekt überlassen. Klar ist aber, dass sich jedes Projekt, das mit Source-Code arbeitet, für ein SCM-System entscheiden muss. Die nicht entschiedenen Entscheidungsprämissen sind etwas komplizierter. Es gibt auch hier zwei Arten, die unterschieden werden können:
2a. die prinzipiell entscheidbaren nicht entschiedenen Entscheidungsprämissen,
2b. die prinzipiell nicht entscheidbaren nicht entschiedenen Entscheidungsprämissen
Als Beispiel für eine prinzipiell nicht entscheidbare Entscheidungsprämisse mag gelten: „Wir wollen eine tolle Unternehmenskultur“. Diese Aussage kann zwar als Wunsch im Raum stehen oder auch als Ziel formuliert werden, es ist allerdings keinesfalls möglich, die Kultur als „toll” zu entscheiden. Vereinfacht gesagt ist damit die prinzipiell nicht entscheidbare Entscheidungsprämisse immer auch nicht entschieden. Die Frage nach dem Source-Code-Management kann ebenfalls eine prinzipiell entscheidbare nicht entschiedene Entscheidungsprämisse sein. Sie ist entscheidbar, das hat das Beispiel oben gezeigt, allerdings muss die Organisation diese Entscheidung nicht treffen. Eine Organisation kann eine prinzipiell entscheidbare Entscheidungsprämisse auch bewusst nicht entschieden lassen oder einfach noch nicht entschieden haben.
Abb. 1: Entscheidungsprämissen nach Stefan Kühl [Küh18]
Prämissen für Autonomie
Damit so etwas wie Autonomie in einer Organisation entstehen kann, benötigen die Mitglieder Entscheidungsräume. Diese werden durch solche Entscheidungsprämissen geschaffen. Dabei wirken alle drei Arten von Entscheidungsprämissen gleichermaßen gestaltend auf diese Entscheidungsräume. Die entschiedenen Entscheidungsprämissen, weil sie klare Grenzen ziehen; die prinzipiell entscheidbaren Entscheidungsprämissen, weil die Mitglieder der Organisation Annahmen darüber haben, was die Organisation vermutlich von ihnen erwartet. Letzteres gilt sowohl für die prinzipiell entscheidbaren als auch die prinzipiell nicht entscheidbaren Entscheidungsprämissen.
Das Modell der Entscheidungsprämissen erklärt sehr schön, wie Autonomie in Organisationen entstehen kann und wie die Organisation sie in ihrem Sinne nutzt. Anders formuliert: Entscheidungsprämissen ermöglichen erst die Handlungen, die die Mitglieder der Organisation als Selbstorganisation wahrnehmen. Für die Organisation ist nun interessant, wie die Entscheidungsprämissen zustande kommen, unabhängig davon, welcher Art sie sind. Für das formale Ausformulieren entschiedener Entscheidungsprämissen muss eine Organisation im Prinzip entscheiden. Es leuchtet ein, dass dieses Entscheiden, wie etwas im Prinzip passieren sollte, schwieriger ist, als eine Einzelentscheidung herbeizuführen. Das macht das Überführen prinzipiell entscheidbarer Entscheidungsprämissen in formal ausformulierte entschiedene Entscheidungsprämissen zu einem für die Organisation zeitaufwendigen Vorhaben. Es gibt mehr Parameter zu bedenken als bei Einzelentscheidungen: Es kann mehr potenziell Betroffene und Beteiligte geben, es kann mehr mögliche interne Einflussgrößen geben, es kann mehr externe Rahmenbedingungen geben ...
Schlussendlich lässt sich festhalten: Autonomie – oder auch Selbstorganisation – benötigt Entscheidungsprämissen, um in einer Organisation funktionieren zu können. Je größer die Entscheidungsräume der Autonomie werden sollen, desto mehr entschiedene Entscheidungsprämissen muss es geben, damit die Autonomie im Sinne der Organisation funktioniert. Der Effekt von mehr Autonomie in einer Organisation führt dazu, dass viele Entscheidungen lokal getroffen werden können, weshalb Autonomie für schnelles Handeln auch so attraktiv erscheint. Diese lokalen Entscheidungen können aber nur im Sinne der Organisation passieren, wenn es Entscheidungsprämissen gibt, die bekannt sind – entweder als entschiedene Entscheidungsprämissen oder als Annahmen darüber, wie die Organisation zu den nicht entschiedenen Entscheidungsprämissen steht. Bekannt werden die Entscheidungsprämissen aber ausschließlich durch Kommunikation in der Organisation, die neben dem Informieren der Mitglieder und ihrem Austausch untereinander auch das Aushandeln der Entscheidungsprämissen umfasst. Diese Kommunikation, insbesondere das Aushandeln, verlagert Kommunikation von der konkreten Situation des „Wir müssen jetzt entscheiden” in eine Situation „Wir müssen darüber nachdenken, wie wir prinzipiell damit umgehen wollen”. Auf diese Weise wird der Kommunikationsaufwand der konkreten Einzelentscheidungen lediglich durch einen Kommunikationsaufwand zu den Entscheidungsprämissen ersetzt, teilweise sogar gesteigert. Wer also vorhat, mit dem Einführen von Autonomie den Abstimmungsbedarf in einer Organisation zu reduzieren, sollte darüber besser noch einmal nachdenken: Autonomie beschleunigt durch die Möglichkeit des lokalen Handelns und Entscheidens, der Preis ist ein kontinuierliches Mehr an Abstimmung, um dies praktisch tun zu können.
Weitere Informationen
[Küh18] S. Kühl, Organisationskultur: Eine Konkretisierung aus systemtheoretischer Perspektive, 2018, Managementforschung 28(1), online via:
https://pub.uni-bielefeld.de/record/2931717