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Dann mache ich das mal, wird schon schief gehen …

In dieser Ausgabe von IT Spektrum interviewe ich Christopher Blum, den ich für einen der hidden Start-up-Champions in Deutschland halte. Christophers Nerdkompetenz und seine Entwicklung über mehrere Stationen zu einem der B2C-Start-up-Experten lassen mich hoffen, dass wir für die vielen ungelösten Aufgaben der Digitalisierung Kompetenz und Role Models außerhalb des Rampenlichts finden, die „einfach machen”. Das braucht Mut, um erst mal anzufangen – und um dann auf dem Weg zu lernen. Die unkomplizierte Art und Weise des folgenden Gesprächs steht aus meiner Sicht exemplarisch dafür, was die Entrepreneurship-Forschung „Effectuation-Ansatz” nennt.

  • 29.10.2021
  • Lesezeit: 19 Minuten
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Johannes Mainusch: Hallo Christopher! Wir kennen uns jetzt 15 Jahre. Wie alt warst du, als du damals bei XING angefangen hast?

Christopher Blum: Ich war 18 an dem Tag, als ich angestellt wurde, und bin 7 Tage später 19 geworden. Ich war damals der Jüngste, der bei XING gearbeitet hat.

„Statt ein Auto zu kaufen, einen neuen Job bekommen”

Das Bewerbungsverfahren startete damit, dass du von unserem XING-Kollegen Karsten Rieke, heute Senior Director in dem französischen Online-Marketing Unternehmen Criteo, das Auto kaufen wolltest. Das hast du dann zwar nicht getan, aber Karsten meinte danach zu mir, er habe da jemanden getroffen, der kann JavaScript.

Ja, Karsten ist über meine E-Mail-Adresse christopher.blum@spellboy.de auf mich aufmerksam geworden. Weil ich also eine E-Mail-Adresse mit einer eigenen Domain hatte, schaute er die Website an, fand die gut und sagte sich, okay, den schreibe ich mal an, vielleicht hat er ja Lust, statt mein Auto zu kaufen, einen neuen Job zu bekommen.

Damals hattest du Realschulabschluss und dann eine Ausbildung?

Staatlich geprüfter Kommunikationsdesigner, das ist eine Privatschule, wo man 3 Jahre eigentlich alles lernt, was in der Werbe- und IT-Branche wichtig ist. Das war alles sehr heterogen angelegt, sprich, man hat von Zeichnen über Fotografieren bis Programmieren irgendwie alles gelernt.

Warum damals eigentlich JavaScript, die meisten haben doch PHP gemacht?

Ich habe auch PHP gemacht, JavaScript hatte damals kein gutes Image, das war eher so das, was alle im Browser deaktiviert hatten, weil man dachte, über JavaScript wird irgendwie Schadsoftware eingeschleust. Ich konnte neben PHP auch JavaScript, und lustigerweise wurde ich in diesem XING-Vorstellungsgespräch so ein bisschen zum JavaScript-Entwickler gemacht. In diesem Vorstellungsgespräch im Balzac Café mit den frühen XING-Entwicklern Norman Timmler und Phillip Oertel kristallisierte sich relativ klar heraus, dass sie einen JavaScript-Entwickler suchten …

Typische XING-Bewerbung also mit Kaffee und Keksen …

Genau :-)! Die haben mir eine ganz einfache Aufgabe gegeben, nämlich über die Dom-Elemente einer Website zu iterieren. Das hatte ich glücklicherweise schon mal gemacht und konnte es problemlos lösen. So wurde ich der gefeierte JavaScript-Entwickler, obwohl ich nicht darauf vorbereitet war. Ich hatte wenig Erfahrung, vorher immer nur per Copy-andpaste JavaScript-Schnipsel übernommen und die in PHP-Webseiten geschmissen, aber ich dachte: Okay, wenn die einen JavaScript-Entwickler suchen, dann mache ich das mal, wird schon schiefgehen, und habe mich dann da reingebuddelt.

Wann hast du angefangen zu programmieren?

Das wurde mir praktisch in die Wiege gelegt. Mein Vater hat immer hobbymäßig Webseiten gebaut, er ist ein begeisterter Segler und hat irgendwann angefangen, für seine kleine Segeljacht Webseiten zu bauen, um zu zeigen, wo er längs segelt, und um Fotos hochladen zu können. Das fand ich vollkommen spannend und wollte das auch machen. Ich habe damals für meinen Freundeskreis und mich mit 14 oder 15 Jahren eine kleine Website aufgebaut. Das war ein bisschen der Mittelpunkt des Jahrgangs, weil mir nach jeder Party die Leute die Fotos zuschickten und fragten, kannst du die auf die Website packen? Mir machte das Spaß und während andere dann Fifa zockten oder sich zum Biertrinken auf dem Spielplatz getroffen haben, habe ich an dieser Website gewerkelt und dann festgestellt, dass man damit auch Geld verdienen kann.

Du bist bei XING rasant zum Senior Frontend-Entwickler geworden ...

Ja, das war eine spannende Zeit. Ich glaube, es war gar nicht so schwer, auf dem Gebiet gut zu sein, weil alle zu der Zeit bei XING denselben Wissensstand hatten. Erst später kamen Technologien wie AJAX auf. Dementsprechend hatten alle denselben Wissensstand und dieselbe Chance, sich da irgendwie in die Richtung zu bewegen. Ich würde jetzt nicht sagen, dass ich zu der Zeit der absolute Experte war, da gab es sicher noch ein paar andere, die auf dem Niveau waren, aber es war auf jeden Fall genau die richtige Zeit, um JavaScript zu lernen.

Du bist bei XING rasant zum Senior Frontend-Entwickler geworden ...

Ja, das war eine spannende Zeit. Ich glaube, es war gar nicht so schwer, auf dem Gebiet gut zu sein, weil alle zu der Zeit bei XING denselben Wissensstand hatten. Erst später kamen Technologien wie AJAX auf. Dementsprechend hatten alle denselben Wissensstand und dieselbe Chance, sich da irgendwie in die Richtung zu bewegen. Ich würde jetzt nicht sagen, dass ich zu der Zeit der absolute Experte war, da gab es sicher noch ein paar andere, die auf dem Niveau waren, aber es war auf jeden Fall genau die richtige Zeit, um JavaScript zu lernen.

Du bist mit Anfang 20 Co-Founder eines Start-ups geworden, was doch zumindest in Deutschland eine gewisse Bekanntheit erzielt hat.

Ja, verrückt! Ich hätte damals nicht gedacht, dass das von ein paar Pizza-Abenden plötzlich zu einem ernsthaften Unternehmen wird, was dann am Ende auch noch 50 Angestellte hatte.

Protonet ist im OBJEKTspektrum damals im Interview mit Ali erschienen (siehe OS_06_15), der orange Zuhause-Server mit viel Datensicherheit. Ihr seid 50 Personen geworden, und dann ging es zu Ende.

Ja, es war lange Zeit ein Top und dann ein Flop. Zwischendurch war es eine Achterbahnfahrt, nur irgendwann hielt die Achterbahn unten an. Wir waren bestimmt vier/fünfmal kurz davor pleitezugehen, haben das dann irgendwie wieder gedreht bekommen. Traurig war es natürlich um die Angestellten, um dieses eingeschworene Team. Wir waren eine richtige Community von Leuten, die wirklich gut miteinander zusammengearbeitet und ein richtig schönes Produkt aus Hard- und Software gebaut haben. Protonet existiert immer noch, operativ bin ich auch weiterhin ein Teil davon, es gibt noch einen eingeschweißten Kreis von Kunden, die dafür zahlen, das auch nutzen und die auch immer noch echte Fans sind. Aber die ursprüngliche Vision, etwas Großes mit Protonet zu erreichen, existiert in der Form nicht mehr. Gegen die Konkurrenz von Dropbox, Slack, Google-Drive und wie sie alle heißen kamen wir nicht an, die waren halt deutlich einfacher ...

„Dank deutschem Insolvenzrecht fällt man sehr weich, wenn man ein Unternehmen in die Insolvenz führt”

Start-up gescheitert, das ist nach amerikanischem Bild normal, aber in Deutschland ist Scheitern immer noch negativ behaftet …

Ich glaube, das Scheitern im Start-up wird in Deutschland mittlerweile besser gesehen. Damals sind viele auf mich zugekommen und haben gedacht, dass ich jetzt auch persönlich pleite bin. Man muss dazu sagen, dank deutschem Insolvenzrecht fällt man sehr weich, wenn man ein Unternehmen in die Insolvenz führt. Keiner sollte Angst haben, aus diesem Grund nicht zu gründen, wir hatten damals einen guten Insolvenzverwalter und uns war vollkommen klar, dass wir persönlich nicht haften müssen. Das hat mir auch gezeigt, dass man ruhig mutig sein darf.

„Ein kleines Team mit Start-up-Mentalität, was autark agieren und Entscheidungen selbst treffen kann”

Was hast du dann gemacht?

Danach habe ich erst mal gefreelanct, ich hatte ein paar Angebote von Firmen, die mich direkt angeschrieben hatten. Dann bin ich für über 2 Jahre bei Jimdo gelandet. Die wollten das Produkt neu erfinden und haben ein kleines Start-up im Unternehmen aufgebaut, was dann auch räumlich getrennt war. Wir haben in einem kleinen Team von drei Entwicklern und einem Produktmanager damit angefangen, Jimdo neu zu entwickeln: das sogenannte Dolphin-Produkt (Red.: Dolphin war der Projektname für den neuen Webseiten-Baukasten der Hamburger Firma Jimdo).

Drei Entwickler und ein Produktmanager bilden ja ein Team, das sehr fokussiert arbeiten kann ...

Das war zu diesem Zeitpunkt sicher ein sehr smarter Move. Bei den großen Konzernen, wo ich für ein paar Tage als Berater tätig war, habe ich gelernt, dass man dort sehr dicke Bretter bohren muss, um etwas auf den Weg zu bringen. Das war bei Jimdo anders, da saß der Entscheider einem gegenüber, und das hat uns beflügelt.

Wie konntet ihr das Produkt, das ihr da gebaut habt, dann Jimdo so zurückgeben, dass es ohne euch weitergehen konnte?

Als klar war, dass das Produkt Potenzial hat, wurden über ein halbes Jahr Stück für Stück Leute aus dem Jimdo-Kernteam herübergeholt, erst Supportler, irgendwann brauchten wir mehr Entwickler, dann jemanden, der die Server-Architektur skalierte. So wurde das stückweise zusammengeführt. Dann kam der Tag, wo diese räumliche Trennung aufgehoben und das Team in Unterteams geteilt wurde. Das hat überraschenderweise alles sehr gut funktioniert.

Ist das ein Muster, das du auch größeren Unternehmen empfehlen würdest, um neue Sachen auszuprobieren?

Auf jeden Fall. Ein kleines Team mit Start-up-Mentalität, das autark agieren und auch Entscheidungen selbst treffen kann oder zumindest unter dem Vorstand angesiedelt ist. Ich würde das so machen. Die Kosten für ein kleines Team von 4 bis 5 Leuten sind überschaubar und wenn es nicht funktioniert, kann man auch schnell darauf reagieren und das Ding wegwerfen oder einen anderen Ansatz probieren. Man muss natürlich immer auch die andere Seite managen, die eventuell etwas neidisch oder skeptisch darauf schaut. Manchmal besteht die Angst, sie würden ihren Job verlieren, wenn das Produkt, an dem da im Hinterzimmer gewerkelt wird, erfolgreich ist. Da braucht es Erwartungsmanagement und Teamführung.

Dich hat es dann bei Jimdo auch nicht gehalten, du gründetest ein neues Start-up ...

Ich bin superdankbar für die Zeit bei Jimdo. Das war für mich eine Phase, wo ich sehr viel über ein mittelständisches Unternehmen und Marketing lernen konnte. Wir mussten uns als Entwickler viel mit Zahlen beschäftigen und überlegen, mit welchen Marketing-Methoden können wir die Conversion-Rate hochbekommen. So lernte ich zu verstehen, wie Software-asa-Service-Produkte funktionieren. Dann haben wir LanguageTool gegründet.

„Mehrere Tausend Menschen täglich suchen allein in Deutschland nach einer Rechtschreib- und Grammatikprüfung”

Wie ist das passiert?

Mein Mitgründer Daniel Naber sitzt seit 2003 auf dem vermutlich größten Open-Source-Projekt, das sich mit dem Thema Grammatik und Rechtschreibung beschäftigt. Das war damals seine Uni-Abschlussarbeit. Er hat die Ergebnisse als Open-Source-Projekt veröffentlicht und Stück für Stück eine Community aus den verschiedenen Ländern und Sprachen aufgebaut. Da haben Leute Rechtschreibund Grammatikregeln geschrieben, zum Beispiel, wo ein Komma hinmuss. Beispielsweise, dass vor „dass” mit zwei „s” ein Komma gesetzt werden muss. So entstand ein Regelwerk für über 20 Sprachen. Zu der Zeit hatte ich immer noch mein erstes Programmierprojekt SpellBoy. Das ist eine Seite, die einfache Rechtschreibfehler, keine Komma- oder Grammatikregeln, in Texten markierte. Als ich sah, dass sich mit jedem Jahr die Besucherzahlen verdoppelten, habe ich angefangen, Werbung draufzuschalten und damit ein kleines Nebeneinkommen generiert. Zwischenzeitlich hatte ich schon herausgefunden, dass die Klickpreise für relevante Keywords extrem gering waren. Ich bezahlte teilweise nur einen Cent pro Klick. So lernte ich, dass mehrere Tausend Menschen täglich allein in Deutschland nach einer Rechtschreib- und Grammatikprüfung suchen. Da Daniel mich sowieso immer von der Seite anschrieb und fragte, habe ich dann gesagt: Jo, jetzt machen wir das!

Stand heute, wie viele Kunden habt ihr?

2 Millionen Menschen aus verschiedenen Ländern nutzen uns pro Monat, vor allem in Mitteleuropa und Südamerika. Die meiste Nutzung findet in unserem Browser-Add-on statt. Wir haben für Chrome, Firefox so kleine Add-ons entwickelt, die sich in jedes Textfeld reinhängen und smarte Vorschläge machen.

Hattet ihr zur Finanzierung von LanguageTool Nebenjobs oder hattet ihr Geldgeber?

Wir hatten eine kleine EU-Förderung im fünfstelligen Bereich, und damit haben wir die ersten Angestellten bezahlt. Dadurch, dass es eine Open-Source-Community gab, ist die Technologie auch weiter gewachsen, das heißt, wir konnten uns komplett auf das Produkt konzentrieren und mussten in den ersten Schritten gar nicht so sehr das Regelwerk erweitern. Wir gaben dem Ganzen zunächst eine schöne UI, eine Website und Browser-Add-ons. Wir wollten so schnell wie möglich das Geschäftsmodell aufbauen. In dem Browser-Add-on bauten wir die ersten Trigger für eine Premiumversion ein, und dann haben wir gesehen, dass die ersten Leute tatsächlich dankend kauften. Ende 2018 haben wir damit angefangen.

Kurzer Dreisatz im Kopf: Ihr seid zwischendurch auf 2000 neue Benutzer täglich gekommen?

Am Anfang waren es im Schnitt 500 neue Benutzer, wir waren sehr dankbar dafür, dass Google uns für relevante Keywords relativ hoch in den Suchergebnissen angezeigt hat, so brauchten wir nicht wirklich Kapital fürs Marketing, es war so eine Art Selbstläufer.

Die Kosten, die ihr hattet, waren die Angestellten und ihr selber?

Wir leben ja zum Glück in einer Zeit, in der ein Server nicht mehr viel Geld kostet, und wo die CPU eines Servers ausreicht, um viele Nutzer glücklich zu machen.

Ihr seid serverseitig in Deutschland geblieben und nicht zu Amazon gegangen?

Genau, Hetzner. Die Hetzner Online GmbH hat mittlerweile ein einwandfreies Cloudprodukt und ist preislich auch ein ganzes Stück günstiger als AWS.

Steckt in dem Produkt nicht nur eine Regel-Maschine, sondern auch eine KI?

Es ist eine hybride Lösung. Wir haben irgendwann im Prozess gesehen, dass das Einstellen von Regelentwicklern oder das Bauen von Regeln nicht schnell skalierbar ist. Bis so eine Regel entsteht, vergeht auch ein Tag, und diese Regel findet dann häufig lediglich einen Fehler in ein paar bestimmten Kontexten. Da in der Open-Source-Welt dank Google und ein paar anderen großen Unternehmen mittlerweile viele Language-Frameworks existieren, haben wir uns vor einem Jahr entschieden, ein KI-Team aufzubauen und dann häufige Fehler mit KI zu erkennen. Den größten Durchbruch haben wir so bei unserem englischen Komma-Modell gemacht, das heißt, wir haben ein KI-Modell mit einem riesengroßen englischen Korpus trainiert, was letztendlich Kommafehler findet und den Vorschlag an der richtigen Stelle macht. Das mit einem Regelwerk abzubilden, hätte Jahre gebraucht, wenn nicht sogar Jahrzehnte.

Heißt das, englische Kommaregeln sind regulär schwierig zu implementieren?

Ja tatsächlich, das liegt vielleicht auch in der Natur der englischen Sprache. Im Englischen gibt es keine Institution, die sagt, da muss ein Komma hin. Es gibt nicht wie in Deutschland den Duden, der ein festes Regelwerk anbietet, sondern es gibt sogenannte Styleguides. The Chicago Manual of Style (https://www.chicagomanualofstyle.org/) ist wahrscheinlich das Bekannteste, das dir sagt, wo Kommas hingehören, wo nicht und wo sie optional sind. Aus der Mischung dieser Style-Guides hat sich ein Common Sense entwickelt. Common Sense kann man tatsächlich am besten mit einer Maschine erkennen und trainieren.

Wie beim Brexit? Wo in Deutschland Regeln sind, regiert in Großbritannien eher Tradition?

Ja, ich glaube schon … Wir haben in Deutschland einen Rechtschreibrat, da sitzen dann (ohne das jetzt zu überspitzen) ältere weiße Männer und weiße Frauen, die darüber bestimmen, wie wir in Zukunft zu schreiben haben, und das wird dann so im Duden übernommen. Es kann natürlich sein, dass eine für Deutsch trainierte KI ein Komma an einer Stelle vorschlägt, wofür der Duden keine Regel hätte, vielleicht bei wörtlicher Rede, ist aber eher die Ausnahme.

Spannend wäre, wenn euer LanguageTool mir für dieses Interview auch vorschlagen würde, welchen Style ich wählen sollte, wenn ich eher die 60-plus-Generation ansprechen möchte oder vielleicht doch die etwas diverseren 30-plusser. Würde so etwas gehen?

Doch, doch! Das machen wir im Moment allerdings über das Regelwerk. Stil mit einer Maschine zu trainieren, da haben wir noch keinen Durchstich, wo wir sagen können, diese Maschine ist jetzt in der Lage, perfekten Stil vorzuschlagen. Häufig ist es einfacher, händische Regeln dafür zu schreiben, weil der Kontext oft recht einfach zu erkennen ist, wo schlechter Stil geschrieben ist. Oft sind das Füllwörter, Adjektive und Verben, die eher umgangssprachlich verwendet werden, beispielsweise die Verben „kriegen” oder „gucken”. Also Worte, die im Sprachgebrauch häufig vorkommen, aber in der Businessnähe keinen so guten Eindruck hinterlassen.

In Deutschland wurden vor zwei Jahren 500 Millionen Euro als Förderung von KI bereitgestellt (https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Pressemitteilungen/2019/20190523-bundesregierung-staerkt-die-foerderung-kuenstlicher-intelligenz.html). Interessant?

Ehrlich gesagt, habe ich mich mit dem Thema noch gar nicht auseinandergesetzt, ob wir an diese Förderung einfach rankommen und was die Voraussetzungen sind. Geld ist allerdings tatsächlich ein Thema, weil wir im Moment schauen, wie wir das Wachstum finanzieren können.

„Auch technologisch und im Bereich der KI haben wir spannende Zeiten vor uns“

Wie wollt ihr wachsen?

Der stärkste Markt ist Zentraleuropa, und da besonders Deutschland, Österreich, die Schweiz und die Niederlande. Wenn man links und rechts schaut, gibt es noch ein paar andere kaufkräftige Länder, wo der Markt recht ähnlich aussieht wie in Deutschland. Deswegen eher Internationalisierung, damit einher gehen natürlich dann Marketing und auch Entwickler, etwa ein französisches Team, was auch Stilregeln bauen kann.

Wie einfach ist es für euch eigentlich, eine neue Sprache zu lernen?

Die Basistechnologie dafür existiert. Das heißt, um jetzt eine Sprache, die wir bisher noch nicht unterstützen, wie Tschechisch, dazu zu nehmen, brauchen wir zunächst nur ein Wörterbuch. So können wir in Schritt 1 einfach dafür zu sorgen, Rechtschreibfehler zu erkennen. Wörterbücher gibt es da draußen als Open Source. Dann gibt es schon die Technologie, um das Regelwerk aufzubauen, das ist Teil des LanguageTool-Open-Source-Servers. Der nächste Schritt wäre dann, KI-Modelle zu entwickeln. Das ist tatsächlich schwierig, weil man dazu ein großes Korpus braucht, und ich glaube, für Sprachen wie Tschechisch wird es einfach keine großen Korpora da draußen geben, die fehlerfrei sind. Für das Training einer KI braucht man ein fehlerfreies Korpus.

Was nimmt man dafür als Trainingsset?

Für Englisch gibt es viel von der Community, die um die Frameworks herum entstanden ist. Ein sehr beliebtes Korpus ist das Enron-Korpus. Enron war ein großer Ölkonzern, der sogar im Dow Jones gelistet war und über Nacht pleiteging. Dann hat sich ein smarter Mensch den gesamten E-Mail-Verkehr aus der Insolvenzmasse irgendwie herausgezogen und als Open Source veröffentlicht. Weil der auch ganz viele Fehler enthält, können wir damit unsere KI testen. Also, wenn wir in solchen Korpora viele sinnvolle Fehler finden und keine Fehlalarme, dann wissen wir, dass unser Modell gut funktioniert.

In diesem Interview muss ich wahrscheinlich nicht so viel korrigieren, du sprichst sehr gut ...

Ich habe die Mittlere Reife und bin wahrscheinlich der beste Nutzer meiner eigenen Software, von daher würde ich gar nicht ausschließen, dass LanguageTool sehr viele Fehler und Vorschläge für das transkribierte Interview finden wird.

Wie geht es weiter, Christopher?

Wir glauben, dass wir ein Produkt haben, das für jeden irgendwie relevant ist. Wir sehen das auch in der Nutzerschaft, es geht eigentlich durch alle Bevölkerungsschichten. Vom Handwerker, der viel mit seinen Kunden kommuniziert, hin zu Otto Normalkoch, der an seinem Rezept arbeitet, bis zu dem klassischen Supportmitarbeiter, der für sein Unternehmen mit vielen Kunden in Kontakt steht. All diese Menschen brauchen Rechtschreibhilfe. Wir glauben schon, dass wir etwas geschaffen haben, das für jeden relevant ist. Dadurch, dass wir in Deutschland sitzen und der Kern unserer Software Open Source ist, muss sich keiner um Datenschutz Gedanken machen. LanguageTool ist ein superspannendes Projekt. Auch technologisch und im Bereich der künstlichen Intelligenz haben wir spannende Zeiten vor uns und werden den ein oder anderen technologischen Durchbruch erzielen.

Dann wünsche ich viel Erfolg. Danke Christopher für das Interview.

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Zu Inhalten

Johannes Mainusch ist Berater für Unternehmen, die Bedarf im Bereich IT, Architektur und agiles Management haben. Dr. Mainusch ist seit 2012 Mitglied der IT Spektrum-Redaktion.

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Christopher Blum ist Mitgründer von Protonet, das 2013 als Deutschlands Start-up des Jahres ausgezeichnet wurde und versuchte, mit kleinen orangefarbenen Serverboxen sensible Nutzer-Daten zu speichern, sowie von LanguageTool, das professionelle Korrekturlesesoftware anbietet Hobby: SpellBoy, ein Rechtschreibprüfungsdienst mit einer großen Nutzergemeinde.

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