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Förderung auf unkonventionelle Weise

Einmal mehr zeigt die Informatikbranche eine Möglichkeit auf, wie unterschiedliche Probleme gemeinsam gelöst werden können. Hochmotivierte Menschen, welche ihre Heimat verlassen mussten, können ihre Fachkompetenzen in einem anderen Kontext nutzen und so dem Fachkräftemangel im Software-Testing etwas entgegenwirken.

  • 27.05.2022
  • Lesezeit: 10 Minuten
  • 84 Views

Das Streben nach einem Entwicklungsprozess, welcher die Qualität einer Software in den Mittelpunkt stellt, nimmt immer mehr Fahrt auf. Quality by Design, also die konkrete Planung der Qualität von Softwareprodukten, stellt die Teams vor neue Herausforderungen. Ein wichtiger Aspekt hierfür ist die Sicherstellung der fachlichen Qualifikation der Software.

Um diese Aufgabe in einem Team realisieren zu können, bedarf es Menschen, welche über die entsprechenden Fachkompetenzen und die zugrunde liegenden Methoden des Softwaretestens verfügen. Die Zusammenarbeit zwischen dem Swiss Testing Board und der Integrationsinitiative von Powercoders zeigt auf, wie eine Win-Win-Situation geschaffen wird, wenn Angebot und Nachfrage optimal aufeinandertreffen.

Powercoders – das IT-Arbeitsintegrationsprogramm für Geflüchtete

Geflüchtete Personen zu integrieren, geht am besten über die Arbeit. Und nicht selten bringen geflüchtete Menschen stark gefragte Kompetenzen und Talente mit. Trotzdem finden Angebot und Nachfrage oft nicht zueinander: Ein Mangel an formaler Qualifikation, nicht anerkannte Abschlüsse, administrative Hürden und Fehlen eines Netzwerks stehen im Weg. Und oft investiert einfach niemand gezielt genug in Talente mit Fluchthintergrund.

Ein Feld, in dem Angebot und Nachfrage effizient zusammengeführt werden können, ist der IT-Bereich. Der Fachkräftemangel der IT-Industrie wird in den nächsten Jahren europaweit weiter drastisch zunehmen. Aus diesem Grund ist vor fünf Jahren die Schweizer Non-Profit-Organisation Powercoders entstanden.

Das Programm Powercoders

Bei Powercoders absolvieren die durch ein mehrstufiges Rekrutierungsverfahren gewonnenen Kandidatinnen und Kandidaten ein dreimonatiges „Bootcamp”, in welchem ein Arbeitsumfeld simuliert wird, wie es in einem westlichen Unternehmen anzutreffen ist. Die Teilnehmenden werden dabei auf ihren Praktikumseinsatz vorbereitet und in einem der von Powercoders angebotenen Feldern unterrichtet, beispielsweise Softwareentwicklung, Data Analytics, IT Support, Testing und einigen weiteren. Das Angebot hängt auch stark von der aktuellen Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt ab.

Die Teilnehmenden können ein Gebiet gemäß den eigenen Vorkenntnissen und Fähigkeiten wählen. Der Ausbildungsgang Testing wird in Zusammenarbeit mit dem Swiss Testing Board, das Powercoders zu 100 Prozent ehrenamtlich unterstützt, seit zwei Jahren angeboten.

Ein wichtiger Teil des Powercoders Bootcamps sind auch die „Business & Social Skills”. Denn in den Herkunftsländern der Kandidaten herrschen zum Teil ganz andere Firmenkulturen, Kommunikationscodes oder soziale Verhalten. Und eine erfolgreiche Integration in ein Team hängt nicht nur von den fachlichen Qualifizierungen ab, sondern zu einem nicht zu unterschätzenden Teil von Softskills.

Ziele und Inhalte des Testing-Tracks

Die Ausbildung bereitet die Kandidaten auf die Zertifizierung ISTQB Foundation Level vor. Diese Zertifizierung ist zentraler Bestandteil der Ausbildung, da sie sowohl die Grundlage des Softwaretestens vermittelt als auch die Einstiegshürde im Beruf deutlich senkt.

In den ersten Kursen haben wir festgestellt, dass die sprachliche Barriere ein größeres Hindernis darstellt, als erwartet. Der Unterricht findet in englischer Sprache statt, welche für niemanden der Powercoders-Kandidaten die Muttersprache ist. In einer Fremdsprache neue Begriffe, Methoden, Konzepte und Werkzeuge zu erlernen, respektive zu vermitteln, ist für alle Seiten eine Herausforderung. Um dem gerecht zu werden, haben wir die Grundausbildung von 2 auf 3 Wochen verlängert und den Unterricht didaktisch umgestellt. Der subjektiven Aneignung von Lerninhalten möchten wir noch mehr Raum geben. Die Lernziele werden anhand von echten Aufgabenstellungen aus der Praxis erklärt und dann in Vertiefungsarbeiten in Kleingruppen oder als Einzelarbeit weiter bearbeitet.

Abb. 1: Powercoders Career Day

Der Weg zur Festanstellung

Das ultimative Ziel des Powercoders-Programms ist eine Festanstellung. Die Teilnehmenden müsse ein enormes Engagement an den Tag legen, um den Sprung in eine Festanstellung zu schaffen. Und es gelingt auch nicht allen, die Integrationsquote liegt derzeit bei 60 Prozent.

Wir haben festgestellt, dass ein Praktikum die Erfolgschancen deutlich steigert. Aus diesem Grund ist das erste Ziel, dass jede Person ein Praktikum zwischen 6 – 12 Monaten erhält, zum Teil werden die Praktika später auf 18 – 24 Monate verlängert, wenn der Praktikant mehr Zeit braucht, um einen Junior Level zu erlangen.

Sich mit konventionellen Methoden für ein Praktikum zu bewerben, führte bei den Kandidaten bis vor ihrer Programmteilnahme zu Frust, weil sie sich so keine Vorstellungsgespräche sichern konnten. Deshalb haben wir entschieden, einen anderen Weg zu gehen. Während des Bootcamps findet der „Powercoders Career Day” statt, an diesem Event lernen die interessierten IT-Unternehmen und -Abteilungen die Kandidaten und deren Profile kennen. Am Career Day wollen wir den Unternehmen die Möglichkeit geben, aufs Mal bis zu 20 Kandidaten via Speed Meetings für einen ersten Eindruck zu treffen, damit sie dann die Woche darauf ihre 3 bis 5 Top-Kandidaten zu einem längeren Gespräch einladen können.

Während der Praktikumszeit wird jedem Praktikanten ein persönlicher Job-Coach zur Seite gestellt, mit dem er sich regelmäßig austauscht um Fragen, Sorgen und Freuden zu teilen. Was mit einer Nebenrolle begonnen hat, ist mittlerweile zu einem Schlüsselfaktor im Programm geworden. Je besser ein Coaching-Tandem funktioniert, desto höher sind die Chancen, dass das Praktikum zu einem Erfolg führt; das persönliche Wohlbefinden des Praktikanten und dessen soziale Integration in der Firma haben sich als enorm wichtige Aspekte herauskristallisiert.

Abb. 2: Powercoders Bootcamp

Was es für Firmen bedeutet

Viele Firmen sind sich ihrer sozialen Verantwortung in der Gesellschaft bewusst und sind bereit, weniger privilegierten Menschen eine Chance zu bieten. Und mit Powercoders wagen sie schlussendlich, sich einer Personengruppe zu öffnen, zu welcher sie vorher keinen Zugang hatten.

Trotzdem ist das Akquirieren von neuen Partnerfirmen mit viel Aufwand verbunden, da es für etliche Firmen das erste Mal ist, eine geflüchtete Person im Team zu haben. Aber der Aufwand lohnt sich, Powercoders konnte bisher über 140 Unternehmen an Bord holen, die schweizweit Praktika und Jobs anbieten. Unter den Firmen befinden sich beispielsweise die Schweizerische Post, UBS, Swisscom, Zurich Versicherung, ABB und T-Systems, aber auch viele KMUs und sogar einige Start-ups.

So fallen auch viele Rückmeldungen von den Firmen zum Powercoders-Programm sehr positiv aus. Beispielsweise Pia Meinzer, Head Global Talent Acquisition bei SIX Group Services AG, unterstreicht:

„Wir sind stets auf der Suche nach begabten und engagierten IT-Talenten, die mit uns die Zukunft des Finanzplatzes gestalten wollen. Zudem stehen wir für eine offene, inklusive und kollaborative Unternehmenskultur und zeigen unternehmerische Verantwortung in gesellschaftlichen Fragen. Mit Powercoders haben wir einen vertrauensvollen, professionellen Partner gefunden, mit dem wir Migrantinnen und Migranten die Möglichkeit geben können, ihre Karriere innerhalb von SIX neu aufzubauen, und um erfahrene Talente in den Schweizer IT Arbeitsmarkt zu integrieren.”

Viele Firmen sehen nach einer positiven Erfahrung kulturelle Diversität als große Bereicherung für ihre Teams.

Nebst den gewonnen Partnerfirmen kann Powercoders auch auf das Engagement von zahlreichen Freiwilligen zählen, die das Programm als Job Coaches und IT-Trainer unterstützen. Ohne sie wäre das Projekt in dieser Form nicht möglich, weil es schlicht zu kostspielig würde.

Game-Changer für die Teilnehmenden

Für die Teilnehmenden ist Powercoders ein echter Game-Changer. Die meisten unter ihnen haben zuvor über längere Zeit vergeblich versucht, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Mit Powercoders rückt eine ihrer größten Hoffnungen, weg von der Sozialhilfe zu kommen, in greifbare Nähe.

Carlos Mena, ein Teilnehmer von Powercoders, der den Testing-Track gewählt hat, bei SIX ein Praktikum absolviert und anschließend bei IKEA eine Festanstellung gefunden hat, erzählt:

„Powercoders war für mich enorm hilfreich, sie haben mir die Möglichkeit gegeben, Unternehmen kennenzulernen, und so bin ich zur Stelle gekommen, in der ich jetzt arbeite.
Ich habe mich für den Testing-Track bei Powercoders entschieden, weil es meiner Meinung nach sehr wichtig ist für jeden, der im Softwarebereich tätig ist, sich auch mit dem Testen von Software zu beschäftigen, um Qualitätsprodukte liefern zu können. Der Testing-Grundkurs vermittelt eine sehr gute Grundlage, um im Bereich Testing Fuß fassen zu können. Es war von großem Wert für mich, dass Powercoders und STB mir diese Chance gegeben haben.”

Anpassungen an den Markt und Expansion

STB und Powercoders holen die Bedürfnisse der Partnerfirmen im Testing-Bereich ab und passen die Testing-Ausbildung entsprechend laufend an. So können Trends bei Werkzeugen oder Methoden berücksichtigt und die Kandidaten noch besser auf den aktuellen Arbeitsmarkt vorbereitet werden.

Nachdem das Konzept von Powercoders in der Schweiz nun erfolgreich etabliert ist und bereits etwas über 200 Teilnehmende das Programm absolviert haben, wird das Konzept parallel seit zwei Jahren auch in anderen europäischen Städten installiert, so in Mailand, Turin und Madrid.

Mit der Schwesterorganisation Remotecoders wurde zudem dieses Jahr ein Pilotprojekt gestartet, bei welchem Geflüchtete aus der MENA-Region (Middle East & North Africa) lokal Schulungen besuchen können und anschließend in remote Praktika und Festanstellungen in europäischen Firmen platziert werden. Eine weitere Bestrebung, Angebot und Nachfrage der IT-Branche zu decken.

Abschluss

Die Kompetenz, die Qualität einer Software nachzuweisen, ist mit Ausbildung, Erfahrung und Willen verbunden, diesen komplexen und interdisziplinären Beruf zu erlernen und zu leben. Über eine Organisation wie Powercoders konnten die Grundsätze des ISTQB, die Aus- und Weiterbildung im Bereich Testing in einer Form umgesetzt werden, welche mehrere Gewinner zulässt. Dass die Qualität von Software auf vielen Ebenen Früchte tragen kann, ist Motivation und Freude zugleich. Dies zeigt, dass das Testen von Software mehr als nur eine Aufgabe im Rahmen der Softwareentwicklung ist, sondern ein eigenständiger Beruf, für manche sogar zu einer Berufung wird.

Nachtrag aus aktuellem Anlass:
Das hier vorgestellte Modell, Flüchtlinge mit Fachwissen über das Testing in Entwicklungsteams aufzunehmen, könnte auch für Menschen aus der Ukraine mit entsprechendem Interesse eine wertvolle Option sein. Zögern Sie nicht, uns zu kontaktieren, wenn Sie dieser Idee eine Chance geben wollen.

WEITERE INFORMATIONEN

Zu Powercoders generell:
https://www.powercoders.org/

Für Firmen, die einen Praktikumsplatz anbieten möchten:
https://powercoders.org/company/

Für Freiwillige, die sich als Job-Coach oder IT-Trainer engagieren möchten:
https://powercoders.org/volunteer/

Zum Swiss Testing Board (STB):
https://www.swisstestingboard.org/

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Zu Inhalten
Alessandro Sebaste ist Inhaber der QSoft GmbH und Experte beim Aus- und Aufbau von Teststrategien für Softwareprodukte. Er zeichnet sich durch seine pragmatische Herangehensweise aus, welche durch seine betriebswirtschaftlichen Erfahrungen, seine Kompetenzen in Erwachsenenbildung und sein fundiertes Wissen in Test-Management untermauert werden. Er setzt sich aktiv für Ausbildungsmöglichkeiten im Bereich Testing ein.
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Zu Inhalten
Christina Gräni ist Lead Company Relations bei Powercoders. Sie hat Grafikdesign studiert und nach beruflichen Stationen in Berlin und New York in der Schweiz eine Grafikagentur gegründet, welche sie sieben Jahre leitete. 2016 initiierte sie eine Spenden- und Hilfsaktion für Menschen in Flüchtlingscamps in Griechenland, und die Erfahrung vor Ort prägte sie so stark, dass sie ihre Firma verkaufte und seither ihr berufliches Engagement ganz in den Dienst von Geflüchteten stellt.

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