79 Prozent der hiesigen IT-Fachleute und Software-Ingenieure denken über einen Stellenwechsel nach. Das hat die Boston Consulting Group 2021 in einer weltweiten Umfrage unter IT-Fachkräften identifiziert. Betrachtet man Wissensarbeiter in Gänze, wie es eine aktuellere forsa-Studie im Auftrag von New Work SE (vormals Xing) tut, sind die Zahlen ebenfalls hoch: Demnach erwägt 2022 mehr als ein Drittel (37 Prozent) der hiesigen Erwerbstätigen einen Jobwechsel – oder hat sogar schon konkrete Schritte eingeleitet. Gegenüber dem Vorjahr legt dieser Trend um vier Prozent zu. Unter den 30- bis
39-Jährigen beträgt der Anteil der Wechselwilligen aktuell sogar fast die Hälfte (48 Prozent) aller Befragten.
Das Maß des Wechselwillens und die tatsächliche Fluktuation von Wissensarbeitern lässt sich laut forsa-Studie vor allem auf die Firmenkultur zurückführen, vor Hygienefaktoren oder der Sinnsuche im Job. „Trotz Corona ist es in vielen Branchen so einfach wie nie, einen neuen Job zu finden. Immer mehr Beschäftigte hinterfragen ihre Arbeitssituation während der Pandemie. Sie prüfen genau, ob ihr Arbeitgeber kulturell noch zu ihnen passt“, fasst es Xenia Meuser zusammen, Senior Vice President Attract & Retain Brand & Marketing bei New Work SE.
Inspirierende Firmenkultur gefragt
Wer wachsen will, muss der drohenden Fluktuation etwas entgegensetzen. Organisationen sollten Katalysatoren für eine wohlwollende, inspirierende und vertrauenswürdige – kurz positive – Firmenkultur schaffen. Um hier jedoch Missverständnissen vorzubeugen: Kultur lässt sich einer Organisation nicht „von oben“ herab verordnen; sie entsteht aus sich selbst heraus. Durch anpassungsfähige Strukturen kann die Organisation jedoch positiven Einfluss auf die Kultur nehmen und diese und sich selbst transparent machen. So reagieren Unternehmen in Zeiten von VUCA – also Volatility, Uncertainty, Complexity und Ambiguity – schnell und zielgerichtet auch aus der Belegschaft heraus auf veränderte Anforderungen. Sie binden Mitarbeitende auf eine intrinsische Art und Weise ein und helfen so, Fluktuation zu verringern (siehe Infokasten).
Aus diesem Grund zielt die Technologieberatung IKOR mit Hauptsitz in Hamburg darauf ab, die eigenen Entwicklerinnen und Berater nicht immer wieder neu zu rekrutieren. Das Credo lautet, diese zu halten, zu „IKORianer:innen“ zu entwickeln und die Menschen so zu begeistern, dass sie möglichst lang im Unternehmen bleiben und dort wachsen.
Abb.01: „New-Hiring“
Dieses „New-Hiring“-Konzept steht (und stand auch schon vor der Pandemie) für den kontinuierlichen Verbesserungsprozess in den Bereichen „New Work Culture“, Recruiting, Onboarding und der weiteren Zusammenarbeit. Das HR-Team prüft den dazugehörigen Prozess federführend und passt ihn regelmäßig an. Dies beginnt beim Recruiting selbst und zieht sich durch weitere Phasen.
Bewerbungsprozess: Geschwindigkeit ist essenziell
Weil sich Wissensarbeiter:innen ihre Jobs im Technologiebereich mehr oder minder aussuchen können, bindet IKOR sowohl die jeweiligen Team-Leads als auch alle dazugehörigen Teammitglieder frühzeitig in den Prozess für Neubesetzungen ein. Dadurch erhalten Bewerberinnen und Neueinsteiger zügig Einblicke in die Arbeitskultur sowie in fachliche und technische Themen. Dies hebt das professionelle Niveau der Gespräche und signalisiert den Kandidaten, wie wichtig dem Unternehmen Authentizität und Empathie sind.
Damit die in den Bewerbungsprozess involvierten Personen, in deren Team das neue Talent andocken soll, „gesprächsfit“ sind, durchlaufen sie HR-Inhouse-Seminare. Dort lernen sie, Bewerbungsgespräche zu strukturieren sowie Fragetechniken zu nutzen. Ein umfangreiches Recruiting-Handbuch verleiht den standardisierten, iterativen Prozessen das erforderliche Tempo: Das Recruiting versucht, Kandidat:innen über zwei, maximal drei Gespräche bis zur Entscheidung zu begeistern und bei gegenseitigem Gefallen schnurstracks an Bord zu holen.
Die Dialoge auf dem Weg dorthin verstehen sich nicht als klassische Top-down-Gespräche; neben fachlichen Aspekten räumen die involvierten Teammitglieder kulturellen Themen sehr viel Platz und den Bewerberinnen und Bewerbern Raum für Fragen ein. In den bisherigen beiden Pandemiejahren haben die Recruiting-Dialoge übrigens auch per Video sehr gut funktioniert.
Recruiting hört nicht auf, wenn die Tinte auf dem Vertrag trocken ist
Im Idealfall umfasst Recruiting unter der Langzeitlupe einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess, der weit über das Onboarding hinausgeht. Damit sich die Neulinge trotz des starken Unternehmenswachstums gut integrieren, hat das HR-Team einen verbindlichen Prozessleitfaden über bis zu sechs Monate Onboarding entwickelt: Kernidee ist es, viele Akteure in unterschiedlichen Fachbereichen frühzeitig in diesen Prozess zu integrieren und alle prozessrelevanten Akteure in den kontinuierlichen Dialog zu bringen.
Neu-IKORianer:innen bekommen beispielsweise jeweils eine Patin oder einen Paten zur Seite gestellt – Kümmerer, die die Newbees jeweils als feste Ansprechpartner begleiten. In den Teams der Fachbereiche unterstützen zudem feste Teammitglieder in HR-Fragen. Sie vermitteln zwischen der HR-Abteilung und den Einheiten, in denen die neuen Talente tätig sind. Über diese Vernetzung von Mitarbeitern und Führungskräften gelingt es, die hauseigene Kultur vorzuleben und für neue Kollegen spürbar zu machen. Im Rahmen der dreimal im Jahr stattfindenden „Welcome Days“ – einem fachlich-kulturellen Get-Together – oder der monatlich zentral organisierten Onboarding-Tage zum jeweils ersten Arbeitstag lernen neue Kolleginnen und Kollegen mehr über Unternehmen und Kultur. Und sie kommen mit anderen Rollen, Fachbereichen und Führungskräften ins Gespräch.
Weiterbildung ist Pflicht
Kolleginnen und Kollegen langfristig zu halten, gelingt IKOR unter anderem dadurch, dass sich das Tech-Unternehmen vor vier Jahren zu einer agil arbeitenden Matrix-Organisation entwickelt hat. Dies stand ursprünglich auf der Agenda, um sich aus Kundensicht besser am Markt auszurichten. Es bringt aber automatisch auch mit sich, dass Kernteams zahlenmäßig überschaubar bleiben: Wächst das Unternehmen, wachsen die Teamgrößen allenfalls maßvoll; meist entstehen stattdessen neue Teams.
Zudem können sich einzelne Kollegen niedrigschwellig in eine Führungsrolle hineinentwickeln; auch den beruflichen Schwerpunkt zu wechseln ist möglich. Dann sollte das Talent allerdings über die entsprechenden Stärken verfügen. Und die Beteiligten sollten der Person einschlägiges Entwicklungspotenzial attestieren. Eine anpassungsfähige Organisationsform sollte immer Spielraum für eine positive Kulturentwicklung bieten.
Weiterbildung ist ebenso ein Thema, mehr noch: Weiterbildung ist Pflicht. Jeder Mitarbeitende soll sich regelmäßig fachliche, technische, methodische oder Soft Skills betreffende Themen aus dem umfangreichen Seminarkatalog aussuchen; pro Jahr stehen allen rund zwei Wochen zur Weiterbildung zur Verfügung. Die meisten Seminare legen die Mitarbeiter im Rahmen ihrer jährlichen Zielvereinbarungen mit ihrer Führungskraft fest – und buchen die ausgewählten Seminare nach Absprache über das HR-Ressort Weiterbildung.
Fazit: Alle Maßnahmen zahlen auf die Kultur ein
„New Hiring“ sollte immer als kontinuierlicher Verbesserungsprozesses angelegt sein. Das HR-Team muss diesen federführend regelmäßig prüfen und anpassen. Neueinsteiger sollten über Vernetzung gut in die Kultur eintauchen können. So bauen neue Kollegen nicht nur ihre fachliche, sondern auch technische Kompetenz aus. Zudem können sie viele neue Facetten entdecken, Neues Lernen und von Benefits profitieren – etwa: von der Unterstützung eines Dualen Studiums, von Kinderbetreuungskosten, bei der der Pflege von Angehörigen, von Sabbaticals oder auch von einem Firmenfahrrad für die eigene Fitness.
Viele dieser Angebote sind Hygienefaktoren; in Summe zahlen sie jedoch alle auf Kultur, Miteinander und letztlich den Unternehmenswert ein – was Firmen mit entsprechender Kultur und Prozessen hilft, dem Wettbewerb als Arbeitgebermarke einen Schritt voraus zu sein.