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"Heute sind noch 85 Prozent der anfallenden Daten Black Data"

JavaSPEKTRUM traf Andreas Geiss, CTO MindSphere, Siemens AG, auf dem SAS Forum in Bonn und sprach mit ihm über die Weiterentwicklung des IoT-Betriebssystems MindSphere, den IoT-Markt und die Rolle, die Analytics in diesem Umfeld spielt.
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Christoph Witte

Chefredakteur IT Spektrum und BI-Spektrum


  • 25.07.2019
  • Lesezeit: 11 Minuten
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JavaSPEKTRUM: Im Markt für IoT-Plattformen gibt es jede Menge Konkurrenz, einerseits im Lager der klassischen IT-Anbieter, andererseits streben große Industrieanbieter wie Siemens, Bosch oder auch GE danach, in diesem Markt stärker Fuß zu fassen. Die einen versuchen, ihre Stärken im IT-Bereich für die Ausweitung ihrer Einflusssphäre in Richtung Fertigung auszudehnen. Die anderen gehen den umgekehrten Weg und trachten danach, ihre Stärke im Maschinen- und Anlagenbau zu nutzen, um die Fabrik mit Sensoren auszustatten und die Maschinen zu vernetzen. Beide Lager streben nach Dominanz. Droht wieder das gleiche Desaster wie noch bei jedem Versuch, in der IT einen Standard zu etablieren? Alle streiten und nichts wird standardisiert, bis sich ein Spieler durch schiere Marktmacht durchsetzt?

Geiss: In Ihrer Aussage schwingt ja die Frage mit, wer unsere wichtigsten Wettbewerber sind. Und das sind eigentlich die IT-Abteilungen unserer Kunden. Die sind natürlich darauf bedacht, diese Themen selbst zu entwickeln. Wenn man heute IoT-Use-Cases anschaut, dann scheitert deren Umsetzung nicht an fehlender Technologie, sondern an der fehlenden datenzentrischen Geschäftsstrategie. Im Prinzip können Sie sich auch alles aus Open-Source-Tools zusammensuchen, jedoch müssen Sie es dann auch folglich selbst warten und betreiben.

Warum also gehen Firmen wie SAS und Siemens mit Mind-Sphere trotzdem diesen Weg?

Solange Unternehmen im IoT-Bereich einen Proof of Concept bearbeiten, solange braucht es IoT-Systeme wie MindSphere oder Analytics-Erweiterungen wie Streaming Analytics von SAS nicht. Aber sobald sie das operativ einsetzen wollen, reichen Open-Source-Tools nicht mehr aus. Dann brauchen sie Partner, die das Offering und die Schnittstellen über mindestens zwei bis drei Jahre stabil halten können. Schließlich ist es die Industrie nicht gewohnt, jeden Monat Veränderungen an einer Applikation oder einer Schnittstelle umzusetzen, die sind eigentlich ganz andere Zyklen gewöhnt.

Mit MindSphere und SAS Analytics bieten wir eine solche stabile Partnerschaft an. Die Tools von SAS werden nahtlos in Mind-Sphere integriert. Im täglichen Umgang merkt der Nutzer nicht, wo MindSphere aufhört und SAS anfängt. Gemeinsam kommen wir zu einer Lösung, die das Kundenproblem bestmöglich adressiert.

Welche analytischen Fähigkeiten bringt MindSphere von Hause aus mit und was kann mithilfe von SAS noch zusätzlich erreicht werden?

Wir haben heute schon in MindSphere eine Predictive Analytics Workbench integriert. Das sind analytische APIs, wo sie Daten kontextualisieren und analysieren können, um Anomalien oder Trends herauszufinden. Mithilfe von SAS verstärken wir uns im Bereich Real Time und Streaming Analytics. Wir können damit Daten sowohl in der Cloud in Echtzeit analysieren als auch in Gateways und Edge-Devices (on-prem).
Ein Großteil der Daten muss nicht zwingend in die Cloud, um analysiert zu werden. Stellen Sie sich eine Werkzeugmaschine vor, die zu 98 Prozent Strich fährt und in diesem Zeitraum 100 Prozent Qualität erzeugt. Warum sollen wir dann 98 Prozent dieser Daten in die Cloud bringen? Vor allem dann nicht, wenn Sie das auch auf einem Edge-Device mit Streaming Analytics bewerkstelligen können. Wenn Sie dann feststellen, dass es zu einer Anomalie kommt, und Sie brauchen den komplexen Algorithmus, um das auszuwerten, dann streamen Sie einen Datenblock in die Cloud, der zum Beispiel 15 Sekunden vor dem Ereignis beginnt und bis zu 15 Sekunden nach dem Ereignis reicht. Diese Highend-Analytics können auf dem Edge nicht mehr bewältigt werden (Speicher und Rechenleistung). Eine solche Strategie ist sinnvoll. Das fordern auch unsere Kunden und genau das wollen wir mit SAS und dem Streaming Analytics-Angebot adressieren.

Welche Rolle spielen in Ihrem MindSphere-Szenario die Entwickler?

Sie spielen bei uns eine große Rolle. Wir adressieren im Grunde drei Gruppen mit MindSphere: Entwickler, Betreiber und Nutzer. Dafür gibt es auch unterschiedliche Lizenzen und Subskriptionsmodelle. Für Entwickler ist entscheidend, dass wir sie mit aktuellen Build-Packs und SDKs versorgen, mit denen sie alles tun können, um eine entsprechende Applikation zu produzieren - angefangen von der Algorithmen-Auswahl bis hin zur Visualisierung. Dabei gibt es natürlich Entwickler beim Kunden oder freie Entwickler, die ihre MindSphere-Applikationen selbstständig vermarkten oder im Kundenauftrag entwickeln. Dabei unterstützen wir ihn natürlich mit Metering oder Billing. Nicht umsonst sprechen wir nicht nur von einem IoT-Betriebssystem, sondern von einem Ökosystem, das ebenso die Vermarktung der Applikationen in einem Store (Mind-Sphere.io) ermöglicht. Damit adressieren wir in einem sehr breiten Umfeld alle Eventualitäten, um Applikationen rasch und mit geringem Risiko sowie einem kurzen Return on Investment erstellen zu können. Das Ökosystem bietet entsprechende Schnittstellen, um Funktionen, die auch über Analytics hinausgehen, einzubinden und dem Kunden so ein rundes Angebot innerhalb von MindSphere machen zu können.

Wie versorgen Sie die Entwickler ganz konkret?

Sie abonnieren zunächst ein Development-Package und haben damit Zugang zur gesamten Dokumentation, sie bekommen die SDKs und die Build-Packs und können loslegen. Wir bieten je nach Bedarf unterschiedliche Pakete an: Je nach dem, wie viele Entwickler damit arbeiten sollen, wie groß der Datenvolumen- beziehungsweise Connectivity-Bedarf ist. Die Kosten dafür beginnen ab ca. 300 Euro im Monat – also keine hohe Hürde, einfach mal loszulegen.

Ist MindSphere ein geschlossenes System?

Nein – definitiv nicht! MindSphere läuft auf drei öffentlichen Cloud-Plattformen: AWS, Microsoft-Azure und für China auf Alibaba. Wir sehen diese Hyper Scaler übrigens nicht als unsere Wettbewerber, wir bauen auf ihren Infrastrukturen auf. Wir sehen unseren Mehrwert darin, die Maschinen und Anlagen der Industriekunden zu konnektieren. Die haben ja ganz selten einheitliche Maschinenparks, sondern immer eine bestehende Landschaft mit sehr vielen unterschiedlichen Herstellern. Wir helfen ihnen, dieses „Brown Field“ miteinander zu verbinden und die Maschinendaten in die Cloud zu bringen, sie dort oder im Edge zu analysieren, um die Effizienz der Maschinen oder der gesamten Produktion zu optimieren. Das ist bisher in vielen Unternehmen nicht möglich, da 85 Prozent der anfallenden Daten sogenannte „Black Data“ sind, mit denen überhaupt nichts gemacht wird. Auch für diese Daten, die in irgendwelchen Dateisystemen schlummern, bieten wir innerhalb von MindSphere Lösungen an, um diese Daten zu nutzen.

Warum offerieren Sie MindSphere für unterschiedliche Clouds und machen es nicht Cloud agnostisch?

Die Provider unterscheiden sich in den Basis-Services wie Compute und Storage nicht sehr stark. Sie differenzieren sich in den erweiterten Services, zum Beispiel, indem sie bestimmte Dienste „serverless“ anbieten, sodass der Kunde sich nicht einmal darum kümmern muss, wie groß die jeweilige Workload ist. Deshalb haben wir bewusst entschieden, dass wir keinen agnostischen Layer mehr benötigen. Wenn der Kunde sagt, er möchte das auf AWS, Azure oder Alibaba haben, stellt es somit kein Problem dar. Wenn er bei den MindSphere-APIs bleibt, stellen wir sicher, dass er zum Beispiel seine Applikationen von einer Cloud auf die andere portieren kann – die Applikation ist somit Cloud agnostisch. Ebenso bieten wir Kunden die Möglichkeit, native Services der Cloud-Anbieter zu nutzen, dann ist er jedoch „cloud dependent“.

In dem Moment wird es dann ja auch für Ihren Partner SAS spannend. Schließlich verfügen die Cloud-Provider auch über diverse Analytic-Services.

Ja, natürlich. SAS hat auch Kunden, die Python oder R nutzen wollen. Das erleichtert die Sache natürlich erheblich. Diese Offenheit in IoT-Plattformen ist einfach notwendig. Heute gewinnt niemand mehr, der glaubt, er könne seine Plattform abschotten und seine Kunden durch einen Vendor-Lock-in binden. Man muss den Kunden die Möglichkeit geben, sowohl MindSphere-Services als auch die Services anderer Provider nativ in der Cloud nutzen zu können.

Sie bezeichnen MindSphere als IoT-Betriebssystem. Aber alles, was Sie bisher geschildert haben, hört sich für mich eher nach einer Plattform an?

Wenn Sie aktuelle Marktuntersuchungen lesen, kommen Sie im IoT-Bereich locker auf rund 300 Plattformanbieter. Für uns ist eine Plattform dann offen, wenn ich sie über offene und dokumentierte APIs ansprechen kann. Wenn Sie mit diesem Kriterium filtern, bleiben von den 300 noch rund 10 sogenannte Plattformen übrig. Ein Betriebssystem zeichnet sich dadurch aus, dass ich Deployments vornehmen kann, Algorithmen als Container bereitstellen kann, sie auf ein Edge-Device herunterbrechen und dort laufen lassen kann und integrierte Feedback-Loops habe. In einem Ökosystem kann ich dann zusätzlich noch Metering und Billing durchführen, kann Appstores anbieten. Dabei ist ein offenes Ökosystem für alle Partner zugänglich. Diese Kriterien erfüllt MindSphere alle, deshalb sprechen wir von Betriebssystem und Ökosystem.

Welche Analytic-Services werden bei Ihren MindSphere- Kunden zurzeit am stärksten nachgefragt?

Interessanterweise denken die Kunden oft sehr viel einfacher, als wie wir an Sachen herangehen. Sie gehen die ersten Baby-Steps, also die Daten miteinander zu vernetzen und einfache Analysen (KPIs) zu fahren. Allerdings ist vielen nicht sofort klar, was IoT ihnen bringen soll. Die Antwort, mit IoT-Daten kannst du Fragen beantworten, die du heute noch gar nicht stellst, ist den meisten zu theoretisch. Aber wenn man ihnen konkrete Beispiele zeigt, sehen sie die Vorteile und den Business-Case.

Zum Beispiel haben wir mit IoT-Daten in einem Metall verarbeitenden Betrieb herausgefunden, dass die Qualitätsdefizite in der Metallverarbeitung von Flachstahl auf kürzere Wartungszyklen der Maschinen zurückzuführen sind. Weil die Wartungsmechaniker weniger Zeit pro Maschine aufwenden konnten, haben sie für das Schmieren der Walzen das Fett mit doppeltem Druck in die Lager gepumpt, mit der Folge, dass das Fett nicht an die richtigen Stellen gelangte, sondern auf der anderen Seite einfach wieder herausgequollen ist. Ohne die Analyse der IoT-Daten aus der Fertigung, Qualität und Wartung hätten sie dieses Problem niemals entdeckt.

Das sind für uns die besten Türöffner. In 95 Prozent der Fälle, in denen der Kunde ein konkretes Problem an uns heranträgt, können wir das lösen. Es bleiben häufig die Projekte stecken, bei denen der Kunde sich das Ziel steckt, mithilfe von IoT in drei Jahren zwei Prozent mehr Marge zu machen oder den Umsatz um zwei Prozent zu erhöhen. Das sind zu generalistische Ansätze. Die Anwendungsfälle sind immer sehr individuell und man braucht viel Domänen-Know-how, um das jeweilige Problem zu lösen.

Wie sehen Sie den IoT-Markt in den kommenden Jahren?

Ich glaube, es wird zu einer deutlichen Konsolidierung unter den Anbietern kommen. Es werden nur wenige Ökosysteme übrig bleiben, die die Kraft und die Geschwindigkeit haben, die Kundenanforderungen in diesem Bereich sauber und schnell zu erfüllen. MindSphere wird eines dieser Ökosysteme sein.

Wird MindSphere denn auch außerhalb der Siemens-Welt eine Rolle spielen?

Eine große Rolle. Wenn der Kunde zum Beispiel etwas im Bereich Predictive Maintenance machen will, dann benötigt er diese Funktionalität ja nicht nur für Siemens-Equipment, sondern für seine gesamten Werke. Wir lieben es natürlich, unsere eigenen Produkte bevorzugt zu verkaufen, wissen aber, dass in einem „Brown Field“ immer verschiedene Hersteller eine Rolle spielen. Und der Kunde möchte eine Lösung, mit der er sein Equipment insgesamt vernetzen kann. Wenn wir das nicht sicherstellen können, würden wir uns disqualifizieren.

Viele Unternehmen, für die IoT-Plattformen oder Betriebssysteme wie MindSphere infrage kommen, treibt die Frage nach dem Besitz der Daten um. Wem gehören die Daten, die in Mind-Sphere und angeschlossenen Applikationen analysiert werden?

Eindeutig dem Kunden. Wir sichern dem Kunden vertraglich zu, dass nur ihm die Daten gehören und nur er die Daten sieht. Die Daten liegen auch nicht in einem MindSphere-Backend, sondern in den jeweiligen Public Clouds, für die sich der Kunde entschieden hat. Wir haben da keinen Zugriff. Wenn der Kunde möchte, dass wir auf seine Daten schauen, muss er explizit einwilligen. Auch wenn der Kunde eine Applikation eines unserer Partner nutzt, muss Letzterer explizit zustimmen, dass diese Applikation auf seine Daten zugreifen darf. Es gilt ganz schwarz/weiß: Alle Daten, die der Kunde in das Ökosystem einbringt, gehören ihm.

Andreas Geiss fungiert als CTO und Vice President bei der Siemens AG – Digital Industries, MindSphere. Er ist verantwortlich für die Weiterentwicklung des hauseigenen IoT-Betriebsund Ökosystems MindSphere, mit dem Siemens die Maschinen und Anlagen seiner Industriekunden vernetzt und die so gewonnenen Daten analysiert und zur Optimierung der Fertigung einsetzt. Andreas Geiss arbeitet seit 2000 in verschiedenen Führungsfunktionen bei Siemens, unter anderem auch als General Manager in China. Seine Karriere begann er nach seinem Ingenieursstudium als Projektingenieur bei der Hoechst AG.

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Christoph Witte

Chefredakteur IT Spektrum und BI-Spektrum
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Christoph Witte ist Gründer der Wittcomm Agentur für IT, Publishing und Kommunikation. Darüber hinaus ist er Chefredakteur von IT Spektrum sowie BI-Spektrum und wirkt zudem bei dem Magazin JavaSPEKTRUM mit.


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