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Ich bin gut im Anstoßen von Dingen

Uygar Sönmez von XING spricht mit OBJEKTspektrum darüber, wie sich ein bisschen Schmackes und Veränderung in ein Unternehmen einbringen lässt: mit diversen Teams. Daher ist es wichtig, bei Mädchen Interesse an Informatik zu wecken. Sie selbst kam über einen Steuerberater und Computerspiele zum Programmieren.

  • 30.10.2020
  • Lesezeit: 13 Minuten
  • 82 Views

Johannes Mainusch: Liebe Uygar, schön, dass du dir Zeit genommen hast. Ich bin schon sehr gespannt auf das Interview. Uygar, du bist aus Wilhelmshaven nach Hamburg gezogen.

Uygar Sönmez: Genau, Schlicktown an der Waterkant wird das auch genannt.

Uygar, das war vor etwa 20 Jahren, als du in Hamburg begannst, Informatik zu studieren. Danach hast du als Junior Softwareentwicklerin bei XING begonnen?

Nein, ich war vorher bei sub-link, ein Start-up im Bereich Werbematerialienerstellung. Wir entwickelten Software für Prospekte, Hefte und andere Werbematerialien für Kunden wie beispielsweise Bon-Prix. In der Zeit habe ich Programmieren in Ruby on Rails gelernt.

Eine Programmiersprache, die gar nicht mehr so bekannt ist, aber vor zehn Jahren, als du bei XING anfingst, dort eine der beiden großen Programmiersprachen.

Das ist heute auch immer noch so. Und es gibt immer noch ein bisschen Perl im Backend. Damals war Ruby on Rails das neue Framework, mit dem man schnell Produkte oder Webanwendung aufsetzen kann. Die eingesetzten Patterns, das einfache Bedienen, Pflegen und Bauen von Software, all das hat uns als Entwickler damals begeistert. Und es gab sehr wenige, die sich darin auskannten. Wir waren in der Firma nur eine Handvoll Entwickler.

Heute bist du Director Engineering bei XING und verantwortest die Softwareentwicklung im Bereich der Premium-Mitgliedschaft, Pro-Business und Pro-Jobs. Software für Millionen von Menschen. Wie war es, als Frau in so eine Männerdomäne zu kommen?

Ich habe das durch mein Studium schon kennengelernt, 2000, als ich nach Hamburg kam und plötzlich über den Campus ging und eine der wenigen Frauen im Studium war.

„Ich habe meine Eltern angefleht, mir den C128 zu kaufen. Ich wollte rauskriegen, wie funktioniert das mit den Spielen”

Wahrscheinlich weniger als zehn Prozent?

Vermutlich gerade mal zehn Prozent. Wir waren ungefähr 60 Leute und fünf oder sechs Frauen. Eine hat ganz aufgehört und eine andere ist nach ein paar Semestern Lehrerin für Informatik geworden. Die anderen Frauen haben das Informatikstudium durchgezogen.

Wie bist du zur Informatik gekommen?

Ich bin als Kind mit zwei Jungs aus der Nachbarschaft aufgewachsen und hab Fußball gespielt, und das war überhaupt nichts Besonderes. Wir sind völlig ohne die klassische Rollenzuschreibung auf dem gemeinsamen Hof aufgewachsen. Ich glaube, das hat viel zu meinem Weg beigetragen. Meine vier älteren Schwestern sind viel traditioneller aufgewachsen. Einer dieser beiden Fußballjungs, mein bester Freund sozusagen, erzählte mir, als wir so etwa 10 Jahre alt waren, vom C64-Computer. Mit dem C64, so sagte er, könne man so viele tolle Dinge machen. Ich fand das spannend, und als unser Steuerberater seinen C128 verkaufen wollte, habe ich meine Eltern angefleht, mir den zu kaufen. Wir waren eine Gastarbeiterfamilie, da war es nicht selbstverständlich, dass mir jeder Wunsch erfüllt wird. Aber es klappte inklusive einer Woche Unterweisung im Programmieren durch unseren Steuerberater.

Das war im Deal drin?

Ja, das war mit im Deal drin. Der hat so was gemacht wie Serienetiketten für Briefe drucken, mit Basic. Also hat er mir Basic gezeigt. Ich habe nicht so viel verstanden damals. Ich habe aber Bücher bekommen und die dann mal durchgewälzt. Dann dachte ich, irgendwas muss man jetzt mit den Geräten doch mal hinkriegen. Eigentlich wollte ich Spiele spielen, und ich wollte rauskriegen, wie funktioniert das mit den Spielen, wo sind die Spiele eigentlich? Das hat mich fuchsteufelswild gemacht und dann habe ich mir die Bücher gegriffen und ein Programm einfach laut Anweisungen abgetippt. Natürlich habe ich nicht alles verstanden, aber immerhin, wenn man auf die Taste drückt, passiert das. Und da ich sowieso die Technikerin zuhause war, habe ich den C128 an den Fernseher angeschlossen. Mit meinem ersten Programm konnte man mit den Tasten des Keyboards Aktionen auf dem Fernseher auslösen. Beispielsweise konnte man den Hintergrund auf dem Fernseher verändern, sodass plötzlich alles rosa war und ein Ton aus dem Lautsprecher kam. So erstellte ich mit zehn mein erstes audiovisuelles Keyboard. Ich war total geflasht und fand das klasse. Als ich meiner Mutter ganz begeistert davon erzählt habe, traf das allerdings auf wenig Verständnis. Irgendwann fing ich auch wieder an, draußen zu spielen, aber so waren die ersten Interessenspunkte für Informatik gesetzt. Mit 15 machte ich einen Kurs, arbeitete an Wochenenden, kaufte von dem Geld einen Windows 95-Computer und ging in den Informatik-Kurs an unserer Schule. Dieser Kurs war super und machte mich noch neugieriger, sodass ich mich entschied, Informatik zu studieren.

Hattest du nach dem Studium das Gefühl, jetzt weiß ich‘s?

Auf jeden Fall gab es im Studium sehr viel Licht in der Dunkelheit. Das erste halbe Jahr war richtig hart, das kann aber auch daran liegen, dass ich von Wilhelmshaven nach Hamburg gezogen bin und erst mal die große weite Welt kennengelernt habe. Es war harte Arbeit, zu begreifen, wie man denken muss, den Informatikstoff zu lernen. Nach dem ersten Semester ging es dann gut voran. Nach dem Studium wusste ich, ich kann etwas Neues lernen und damit etwas anfangen. Aber ich wusste noch nicht, in welche Richtung ich wollte.

Also Sicherheit im Lernen?

Ich brauche zum Lernen viel Zeit. In vielen Themen gleichzeitig zu schwimmen, bringt mich nicht weiter. Fullstack-Entwickler zu sein, wäre nichts für mich. In spezifischen Bereichen kann ich sehr tief einsteigen und Expertin werden, bei zu viel Breite würde ich nur an der Oberfläche kratzen. Wenn ich etwas Neues lernen möchte, brauche ich Zeit, Fokus und Lust darauf.

Wie vermittelt man Mädchen ein Interesse an Informatik?

Ich probiere das gerade zuhause bei meiner Tochter, aber ihr Interesse ist noch nicht so groß. Meiner Erfahrung nach fängt man am besten sehr früh damit an. Allein durch Mädchen- und Jungssachen setzen wir schon die Saat im Kopf fest. Jungs spielen halt Fußball und Mädchen mit Puppen. Ich hatte eine glückliche Konstellation dadurch, dass ich Kinder in meinem Spielalter hatte, die nicht so befangen waren. Da war alles möglich, niemand sagte mir, dass ich etwas nicht könne. Meine Eltern mit türkischem Migrationshintergrund waren eher bestrebt, keinem Klischee zu verfallen, und machten mir Mut, auf eigenen Beinen zu stehen. Ich glaube, dass Mädchen früh von den Eltern vermittelt werden sollte, es gibt keine Jungs-Mädchen-Sachen. Wir sollten versuchen, die jungen Frauen dazu zu ermutigen, ihre Neugier aufrechtzuerhalten und Informatik mal auszuprobieren.

„Ich glaube allerdings schon, dass der geringe Anteil von Frauen in den Ingenieurwissenschaften und der Informatik ein westliches Problem ist”

Ich habe von einer Ägypterin gehört, dort sei der Anteil von Frauen in der Informatik etwa 50 Prozent. Weißt du zufällig, wie das in der Türkei ist?

Das weiß ich leider nicht. Ich glaube allerdings schon, dass der geringe Anteil von Frauen in den Ingenieurwissenschaften und der Informatik ein westliches Problem ist. Ich hätte das auch nicht in Indien erwartet, wo Frauen eher in der Softwaretechnik/-entwicklung sind und Männer eher im Ingenieurwesen.

„In einem ein- bis zweitägigen Workshop wird den Frauen Ruby on Rails vermittelt deswegen rails girls”

Du engagierst dich seit 2011 bei rails girls. Wer sind die rails girls?

Das wurde von Linda [Anm. d. Red.: Linda Liukas und Karri Saarine gründeten 2010 die rails girls in Schweden] als Programm für junge Frauen aufgesetzt, um denen Informatik und Programmieren nahezubringen. In einem ein- bis zweitägigen Workshop wird den Frauen Ruby on Rails vermittelt – deswegen rails girls. Im Workshop wird gezeigt, wie man schnell und einfach eine Anwendung aufsetzt. Morgens ohne Wissen und mit dieser Befangenheit, ob das überhaupt zu schaffen ist, reingehen und abends im Browser dann das Ergebnis live ansehen. Dieses Erfolgserlebnis bringt die Frauen weiter. Ich habe die rails girls auf einer Konferenz gesehen und dachte, das müssen wir auch in Deutschland machen, in Hamburg. So haben wir das mit Kollegen aus der Community gemeinsam aufgesetzt. In der ersten und in der zweiten Runde war ich auch dabei. Ich bin eher ganz gut im Anstoßen von Dingen.

Uygar Sönmez ist Director Engineering, XING SE Motto: Be excellent to each other Lieblingsprogrammiersprache: Ruby on Rails

Deine Eltern sind als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen?

Meine Mutter ist 1972 nach Deutschland gekommen, mein Vater war zu dem Zeitpunkt aus gesundheitlichen Gründen noch mit meinen vier Schwestern in der Türkei. Das war eine gute und eine sehr ungewöhnliche Entscheidung für die damalige Zeit, eine Frau aus Anatolien, die die Sprache nicht beherrscht, geht nach Deutschland und lässt ihre Familie und ihre kleinen Kinder zurück. Es ging um ihre Existenz und um die Zukunft ihrer Kinder: Die sollen es mal besser haben. Dann war sie vier Jahre allein hier, bevor die Familie nachkam.

Das zeugt von Energie und Zielstrebigkeit, Respekt. Was macht diese doppelte Minderheit mit dir, als Frau in der IT mit türkischem Migrationshintergrund in Deutschland?

Als junges Mädchen war es sehr schwierig, beides zu vereinbaren, jetzt ist es einfach eine Bereicherung. So versuche ich, meine Tochter zu erziehen. In Wilhelmshaven waren ja nicht nur türkische Einwanderer, es gab Jugoslawen, Griechen, Italiener, die ganzen Gastarbeiter waren plötzlich ein Kulturblob, da waren die Grenzen plötzlich nicht mehr da. Wir hatten beispielsweise griechische Freunde. In der Fremde fremd zu sein, hat die Leute zusammengebracht. Aber meine Eltern hatten auch deutsche Freunde. Sie waren zwar der deutschen Sprache nicht so gut mächtig, aber wir empfanden keine Ausgrenzung. Ich habe mich nicht als Minderheit empfunden. Ich fand eher schwierig, die kulturellen Unterschiede miteinander zu vereinbaren. Aber sonst fand ich das Zusammenleben, also Grenzen nicht zu spüren, viel einfacher als in Hamburg oder in anderen Situationen. In einer Großstadt finde ich das viel auffälliger mit den Gruppen.

Du hast bei XING geholfen, einen neuen Entwicklungsstandort in Portugal aufzubauen. Hat dir deine kulturelle Diversität dabei geholfen?

Ich glaube, dass das sehr hilfreich war. Ich möchte aber anderen, die nicht in zwei Kulturkreisen aufwuchsen, nicht absprechen, dass sie das nicht auch können. Aber mir hat es geholfen, zu verstehen, dass es eine andere Kultur gibt, die man verstehen muss, dass es gewisse andere Arten gibt so wie behördliche andere Vorgänge, Prozesse, die anders laufen, Mentalitäten, die anders sind, Familienstrukturen, die anders funktionieren. Das hat ja alles einen Einfluss auf die Mitarbeit und die Zusammenarbeit. Und es ist auch hilfreich, um Unterschiede wahrzunehmen und als Bereicherung anzusehen.

Wie macht ihr das sprachlich, ist das alles Englisch?

Ja, jeder bringt seinen Akzent mit rein, und so sprechen wir eine Sprache, mit der wir alle umgehen. Jeder native Speaker würde sicher seine Hände über dem Kopf zusammenschlagen, wenn der uns reden hört. Aber man versteht sich, zumindest versucht man es. Was auch sehr hilfreich ist, ist Interesse an der anderen Kultur zu zeigen, Interesse an der Person, am Individuum. Ein paar Brocken Portugiesisch zu lernen, um auch mal Bitte und Danke zu sagen, das zeigt eine Wertschätzung, und das trägt auch zum Miteinander bei.

Begegnest du oft Situationen, die stark vorurteilsgeprägt sind?

Ja, es wäre ja blind, es sind nun mal Menschen und Menschen sind so unterschiedlich gefärbt, es gibt so viele Abstufungen zwischen Schwarz und Weiß, und auch dort gibt es Vorurteile gegenüber einer Gruppe, sei es aus anderen Ländern, Geschlecht, auch Alter.

Alter?

Softwareentwicklung ist oft von der Angst begleitet, die Jugend kommt. Die lernen alles neu und sind viel schneller und die Älteren brauchen länger. Diversität im Unternehmen bedeutet, Situationen zu schaffen, in denen beide Gruppen voneinander profitieren.

„Um in einer diversen Gesellschaft ein passendes, ein besseres Produkt zu bauen, hilft es, divers denken zu können”

Warum ist Diversität wichtig für ein Unternehmen?

Unsere Kunden sind ja auch divers. Um in einer diversen Gesellschaft ein passendes, ein besseres Produkt zu bauen, hilft es, divers denken zu können. Um Kunden zu verstehen, brauchst du Verständnis für deren unterschiedliche Hintergründe. Mit immer den gleichen Menschen wirst du auch immer nur bei denselben Sachen landen. Wenn du ein bisschen Schmackes und Veränderung einbringen möchtest, dann hilft ein diverses Team, wo das Alter unterschiedlich ist, das Geschlecht, die kulturellen Hintergründe. Das geht nur, wenn alle gewillt sind, in einem diversen Umfeld zu arbeiten, und offen genug sind, das Anderssein zu akzeptieren. Ansonsten wirst du damit nicht vorankommen. Das muss auch vom Management so vorgelebt werden, dass alle gleich in ihrer Individualität behandelt werden.

Helfen Quoten dabei, Diversität im Management zu erreichen?

Quoten sind ein Mittel zum Zweck, um eine Veränderung herbeizuführen. Es ist jedoch schwierig, wenn beispielsweise in Männerrunden Diversität mit Floskeln abgetan wird, also wenn gar kein Diversitätsbewusstsein besteht. Wenn ich etwa beim Hinweis auf fehlende Diversität gleich als Feministin betitelt werde, so hilft das nicht, sachlich auf den Status quo zu blicken. Früher nagte die Frage an mir, ob ich etwa nur in die Runde befördert wurde, weil ich als alleinerziehende Mutter, Frau und Türkin eine Quote erfülle. Inzwischen habe ich das Selbstbewusstsein, dass es meine Kompetenz ist, die mich heute an diese Stelle gebracht hat. Und daher ist für mich fehlende Diversität nur auszuhalten, wenn alle Beteiligten sich der fehlende Diversität bewusst sind und es ändern wollen.

Uygar, vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte ...
Dr. Johannes Mainusch (johannes.mainusch@kommitment.works) Berater für Unternehmen, die Bedarf im Bereich IT, Architektur und agiles Management haben. Dr. Mainusch ist seit 2012 Mitglied der OBJEKTspektrum-Redaktion.

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Johannes Mainusch ist Berater für Unternehmen, die Bedarf im Bereich IT, Architektur und agiles Management haben. Dr. Mainusch ist seit 2012 Mitglied der IT Spektrum-Redaktion.


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