Man könnte meinen, das Universum macht das mit Absicht, um uns vorzuführen. Grade in der Zeit, wo der Mensch am Gipfel seiner Selbstgefälligkeit ist, stolz auf sich selbst, sich alles so schön untertan gemacht zu haben und kontrollieren zu können, zeigt es uns, wo der Hammer hängt. Jetzt, wo wir selbst komplexe Probleme einfangen und lösen konnten, kommt der nächste Level: Chaos. Unkontrollierbare Viren, Klimakollaps und geopolitische Krisen, die man heute gar nicht mehr für möglich gehalten hat. Vielleicht sind wir ja doch nicht so die Krone der Schöpfung, sondern einfach auch nur Teil des Ganzen. Wie dem auch sei, wir müssen mit Chaos umgehen lernen. Aber beginnen wir mal vorne. Damals, als alles noch einfach war. Na ja, vielleicht nicht ganz einfach, aber ...
kompliziert
Ursache. Wirkung. Drehe hier. Dann passiert das. Ja, so einfach war es mal. Lange vor der Zeit der Softwareindustrie, aber auch noch an deren Beginn. Ingenieure, Architekten und Spezialisten entwarfen am Reißbrett, berechneten und planten. Struktur und Hierarchie. Und das ging auf. Die große Zeit der Automatisierer, Optimierer, Dokumentierer und Normierer, die das letzte μ an Ineffizienz aus den Prozessen entfernt haben. Ja und da waren wir im mitteleuropäischen Raum auch sehr gut darin.
komplex
Dann wurde es komplex. Vielleicht war das Internet schuld. Alles begann, sich zu vernetzen. Global um die Welt bis lokal ins Unternehmen. Alle Systeme sprechen mit allen. Hierarchien funktionierten nicht mehr. Drehe hier ... aber was passiert denn nun? Ach, da drüben. Das mit der Kontrolle und Steuerung funktionierte nur mehr im Kleinen. Kurze Feedbackschleifen, um den Plan schnell anzupassen und auf Impacts zu reagieren. Immer wieder Reflexion über das Tun. Segeln auf Sicht auf der rauen See. Normierer sind durch Scrum-Master und Rituale ersetzt worden und kaum ein Unternehmen, das sich heute nicht schon ein agiles Framework draufgeschnallt hat. Das läuft nicht immer rund, gerade dann, wenn manche noch die bekannten „komplizierten“ Lösungen verteidigen. Aber auch hier gibt es kein Ausruhen, denn es wird ...
chaotisch
Hohe Instabilität und Vulnerabilität. Brüchige Verbindungen. Zusammenhänge sind nun nicht mehr nur nicht vorhersagbar, sondern auch im Nachhinein durch Reflexion nicht erklärbar. Vieles gar nicht mehr verständlich. Segeln auf Sicht ist nicht mehr – der Nebel ist zu dicht. Und jetzt? Gute Frage. Uns wird nichts anderes übrig bleiben, als das gemeinsam zu explorieren. Ich bin mir nicht sicher, ob unsere „komplizierten“ und „komplexen“ Strukturen sich zum Handling von Chaos weiterentwickeln können. Wir sehen ja gerade, dass unsere politischen und gesellschaftlichen Strukturen mit Pandemien, globalen Krisen und Klimakollaps mehr schlecht als recht zurechtkommen und in ihrer Welt gefangen sind. Auch Unternehmen transformieren sich gerade nur mit viel Energie und Zeit in den komplexen Kontext. Aber wir werden das lösen. Weniger mit KI, aber mit der unbewussten Kompetenz des Menschen. Ich glaube auch, dass uns hier keine Methodenframeworks mehr helfen. Stattdessen könnte ich mir vorstellen, dass wir mehr auf Intuition, Flow und Empathie setzen. Auf den gegenwärtigen Moment und was es da jetzt braucht. Das, was vielleicht manche heute schon als agile Haltung definieren – abseits der Rituale und Vorgehensmodelle. Es wird auf jeden Fall aufregend. Vielleicht auch anstrengend. Aber auf jeden Fall lehrreich. Ich freue mich drauf.
Ihr Richard Seidl