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Vergessen Sie Scrum!

Agilität und die damit verbundenen Rahmenwerke werden gerne wahlweise als Allheilmittel oder als Anhäufung von Buzzwords angesehen. Dabei geht es gar nicht darum, sich einer der Religionen zu verschreiben. Denn es kann auch zu messbarem Erfolg führen, sich erstmal nur die Tools aus den Frameworks herauszupicken, die Team und Unternehmen in der momentanen Situation weiterbringen. Der Rest ist wie das Leben selbst: Lernen. Ein Erfahrungsbericht.

  • 21.12.2018
  • Lesezeit: 10 Minuten
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Wenn ich als Berater in ein Unternehmen komme, in dem man sich entschieden hat, agil oder noch agiler zu arbeiten, gebe ich erstmal einen – bewusst etwas provokanten – Rat: Vergesst Scrum! Das mag verwundern, erwartet man von einem Berater für agile Organisationsentwicklung doch eigentlich das genaue Gegenteil. Meine Aufforderung hat jedoch nichts damit zu tun, dass es an diesem Organisationstool irgendetwas auszusetzen gäbe. Allein – es ist eben nur ein Framework und damit erstmal egal. Wirklich ankommen tut es auf etwas anderes. Meine Kollegen André Häusling und Martin Kahl-Schatz haben es so formuliert: „Viele agile Transformationen stecken fest oder scheitern, weil sich lediglich auf Vorgehensmodelle, Prozesse und Methoden konzentriert wird. Dabei geht es vielmehr darum, die Werte und Prinzipien der Zusammenarbeit in Organisationen neu zu denken.“ Und einfach mal anzufangen, diese in Handeln umzusetzen. Denn einzelne agile Elemente zu realisieren, ohne gleich das komplette Framework zu übernehmen, habe ich persönlich als hochgradig wirksam erlebt. Konkrete Zahlen belegten den Erfolg. Merke: Eine Veränderung in der Kultur hilft auch bei der Erlangung der fachlichen Ziele.

Schmerzen auflösen

Dieses Learning kam – agilerweise – aus einem Schmerz heraus und durch Ausprobieren. Als ich die Verantwortung für den Bereich Customer Service eines großen internationalen Konzerns übernahm, war es mir unbehaglich mit der Art und Weise, wie dort kommuniziert, geführt und zusammengearbeitet wurde. Die Teams waren in sich optimiert, aber das Zusammenspiel und das große Ganze verblieben komplett im toten Winkel. Einzige standardisierte Kommunikation war die einstündige Leiterrunde, die alle vierzehn Tage stattfand. Alles war sehr hierarchisch und auf meine Rolle als Bereichsleiter zugeschnitten: Kommunikation, Feedback, Entscheidungen. Aus den Teams kamen kaum Ideen oder Rückmeldungen. Fehler, Kritik, Dissens – alles irgendwie nicht erlaubt. Eine Situation, die ich als dysfunktional und menschlich unangenehm empfand. Also fing ich an umzubauen. Das Ganze sollte mehr als die Summe seiner Teile sein und damit auch die fachlichen Ziele besser erreichbar machen. Zunächst etablierte ich ein festes Meeting-Format mit kürzerem Zyklus und längerer Dauer – ein wöchentliches Meeting, für das jeder Leiter rollierend die Verantwortung hatte. Sukzessive gab ich bei immer mehr Themen die Entscheidung ins Team. Das barg zunächst einigen Konfliktstoff, da die Leiter untereinander zu einer neuen, vertrauensvollen Zusammenarbeit finden mussten und meine Rolle für manche ungewohnt und verunsichernd wurde. Das Leitungsteam zog sich darüber hinaus alle sechs Wochen für einen Tag aus dem Arbeitsalltag heraus, um klar voneinander getrennt vormittags Inhaltliches zu besprechen und nachmittags die Zusammenarbeit im Team ins Auge zu fassen. Wie man sich vielleicht vorstellen kann, löste Letzteres erstmal wenig Begeisterung aus. Tenor: Das brauchen wir nicht, wir sollten die Zeit lieber für Fachliches nutzen. Teilweise waren die Leiter mit unterschiedlichen Aufgaben betraut, was das ein oder andere „Das betrifft mich doch gar nicht“ verursachte. Es bildeten sich Fraktionen. Zunächst stieß die übergreifende Perspektive also auf Widerstand, die Interdisziplinarität zu nutzen. Und sie sorgte für reichlich Verunsicherung: Wenn jeder die Verantwortung für das Gesamte annehmen sollte, was wäre dann meine Rolle? Nur: Die Verantwortung konnte ich gar nicht delegieren. Mich trug aber die Überzeugung, dass eine Lösung im Team oft zu besseren Ergebnissen führen und ich damit meiner Verantwortung besser gerecht würde. Also übte ich mich im Loslassen und blieb bei der Teamentwicklung unerbittlich. Im Rückblick lässt sich sagen, dass diese Runden mit Abstand das Wichtigste an der Umgestaltung waren. Diese Form der Retrospektive brachte das Lernen in unsere Zusammenarbeit, brachte Verbindlichkeit und Reflexionsfähigkeit und wurde so zum Anker schlechthin. Und wie das so ist – ein Stein bringt den nächsten ins Rollen: Fast zwangsläufig ergaben sich neben Inhaltlichem auch Themen der Zusammenarbeit, die wir immer wieder festhielten und priorisierten: Was sollten wir als Nächstes angehen? Auf diese Weise entwickelte sich unser Themenspeicher

Abb. 1: Agile Tools gibt es viele – am besten ausprobieren, was passt, ©HR Pioneers GmbH

Agile by Accident

Das erinnert Sie an Scrum? Stimmt. Die Formate gleichen den methodisch vorgegebenen Elementen der Scrum-Methode: Das Weekly ist mit dem Daily vergleichbar, der sechswöchige Rhythmus war unser Sprint, die ganztägigen Treffen umfassten Review, Retrospektive und das Planning für die nächsten sechs Wochen. Der Themenspeicher war unser Backlog beziehungsweise Sprint-Backlog. Eine Kollegin, die uns in den Workshops recht hartnäckig in allen Aspekten unserer Zusammenarbeit und unseres Führungsverhaltens coachte, war ein perfektes Beispiel für einen Scrum Master. All das wusste ich zu dieser Zeit jedoch noch nicht. Bis dato hatte ich mich mit agilen Methoden noch nie auseinandergesetzt, war ihnen nicht „über den Weg gelaufen“. Aber ich hatte Schmerzen verspürt, überlegt, wo es hakte, und gehandelt. Instinktiv bewegte ich die richtigen Hebel. Genau das ist der Grund, warum ich das agile Vorgehen heute so überzeugt vertreten und an andere weitergeben kann. Ich habe fast schon zufällig aus mir selbst herausgefunden, wie wirksam es ist. Die Ergebnisse waren absolut überzeugend. Wenn mir damals jemand Scrum als Methode vorgestellt hätte, wäre das vermutlich erstmal nicht auf fruchtbaren Boden gefallen. Ich war in einem Prozess der Kulturentwicklung, nicht von Software, und das Framework war mir dann doch etwas „erschlagend“. Wenn dieser Jemand aber den Fokus gewechselt, mit mir mein Vorhaben durchgesprochen und dabei von Scrum-Prinzipien inspirierte Elemente eingebracht hätte – dann wären manche Fehler vermieden worden.

Abb. 2: Ein Open Space ist offen für Themenvorschläge, ©HR Pioneers GmbH

Abb. 3: Spieleabend geht auch tagsüber – wenn’s dem Team dient, ©HR Pioneers GmbH

Ergebnisse überzeugten

Dennoch waren wir mit diesem kulturellen Wandel im Customer Service sehr erfolgreich – auch aus rein fachlicher Sicht. Über die folgenden drei Jahre sparten wir Kosten im zweistelligen Prozentbereich ein. Und was noch ausschlaggebender ist: Gleichzeitig zeigte sich im Hinblick auf den Kunden Erfolg. Der Servicelevel konnte um zwei Drittel verbessert werden. Das bedeutet, die durchschnittliche Zeit, in der ein Kunde eine Antwort auf eine Anfrage erhielt, verringerte sich um fast zwei Drittel – bei weniger Personaleinsatz. Vielleicht der wichtigste Erfolg im Sinne der Kundenausrichtung, die die Grundlage der agilen Haltung bildet. Zum Ergebnis in Sachen Kulturwandel gibt es naturgemäß weniger handfeste Daten, doch war es deutlich spürbar. Die Prinzipien der Selbstsorge und der Gesamtverantwortung setzten sich im Team fest. Die Motivation auf Teamleiterebene war sehr ausgeprägt. Allein wenn ich an die Leiterrunden denke und den Vergleich zu den ersten Monaten ziehe – es war ein Unterschied wie Tag und Nacht. Es wurde leidenschaftlich diskutiert, sich eingebracht, gestritten, gelacht, entschieden, experimentiert. Anstrengend konnte das sein. Und ein Genuss. Als ich aus dem Konzern ausschied, wurde meine Position erst ein Jahr später nachbesetzt – ohne dass die Performance des Bereichs abflachte. Was eine gute Selbstorganisation im Bereich und in den einzelnen Teams belegt.

Fehler: done!

Doch meine Herangehensweise wäre nicht agil gewesen, wenn ich nicht auch Fehler gemacht hätte. Im genannten Fall war es vor allem mein naiver Ansatz, alle Beteiligten trügen dieselben Vorstellungen über unsere Zusammenarbeit im Kopf und Herzen wie ich. Aus dieser Annahme heraus habe ich die Vision nicht klargezogen. Wie möchte ich, dass Zusammenarbeit bei uns läuft? Wie soll Führung gelebt werden? Das Versäumnis, ein übergreifendes Bild zu schaffen, kostete uns alle Zeit und Energie. Einige waren mit ihrer Haltung auf der gleichen Wellenlänge und verstanden sehr schnell, in welche Richtung es (endlich) geht; andere wurden mit Fragezeichen zurückgelassen. Die Zusammenarbeit gestaltete sich zäher, als sie es hätte sein müssen. Ein wichtiges Learning, das ich nun in der Beratung unserer Kunden einbringe.

Wie wir „Experten“ das machen

Auch in meinem jetzigen Unternehmen steht das Lernen im Fokus. Wir sind Experten, aber genau das besagt im agilen Kontext ja, dass es immer weitergehen muss. So lernen wir mit unseren Kunden, aber zunehmend auch an uns selbst. Mit dem gesunden Wachstum der Beratung mehren sich die Gestaltungsfragen. Wie bauen wir unsere eigene agile Organisation? Welche Organisationstools helfen uns in der Zusammenarbeit für den Kunden? Wie wollen wir kommunizieren? Hier greifen wir auf einzelne Elemente zurück, die wir so kombinieren, wie es für unser Unternehmen, unsere Mitarbeiter und vor allem unsere Kunden sinnvoll ist – und unseren Werten entspricht. Wir werden oft gefragt, wie das bei uns im Unternehmen läuft. Ich will diese Frage hier mit ein paar Beispielen beantworten. Meeting-Formate bei uns sind zum Beispiel das Lab, Townhall und Coffee. Das Lab findet vierteljährlich über drei Tage statt. Darin besprechen wir mit dem kompletten Team organisationsübergreifende Themen, wie Strategie. Das monatliche Townhall dient der Diskussion und Entscheidung kürzerer Themen. Das ebenfalls monatliche Coffee ist ein Austausch-Format, um von den Erfahrungen der Kolleginnen und Kollegen zu lernen. Die einzelnen Meetings schließen wir mit einer kurzen Retro ab. Denn auch bei diesen Kommunikationsforen gilt: Wir lernen ständig dazu und richten die Formate konsequent an unseren Bedürfnissen und der Effektivität aus. Dazu greifen wir oftmals aufs Timeboxing zurück, auch ein Scrum-Element: Am Anfang des Meetings werden die Themen gesammelt, die zu verhandeln sind, und mit Angaben versehen, wie lange wir uns jeweils Zeit dafür nehmen wollen: fünf, zehn oder zwanzig Minuten? Wenn es in der Summe mehr ist, als für das Meeting zur Verfügung steht, wird priorisiert und eventuell aussortiert. Dann läuft die Uhr.

Spielen erlaubt

Trotzdem gelingt es nicht immer, sich zu disziplinieren. Deswegen haben wir ein Spiel entwickelt, das Meetings verbessert und verhindert, dass sie zum großen Zeitfresser und Motivationskiller werden. Die Karten, die man während der Besprechung ausspielen kann, reichen von „Backlog – Super Gedanke, lasst uns das im Backlog festhalten.“ über „Kundenperspektive – Was würde unser Kunde dazu sagen?“ oder „Fokus – Diese Diskussion gehört in einen anderen Kontext.“ bis zu „Pause – Ich kann nicht mehr! Geht es Euch genauso?“ Das ist nur ein Beispiel, wie man sich immer wieder von allen Seiten Tools heranziehen kann, um in den Teamprozessen besser zu werden. Das darf spielerisch geschehen – diese Herangehensweise lockert auf und bringt oft erstaunliche Lern­effekte hervor. Mein Kollege Jan Sievers hat dazu in der letztjährigen Mai-Ausgabe von OBJEKTspektrum (5/2017) ausführlich verschiedene Spiele beschrieben. Ob Spiel, Tool oder einfach eine Idee – was auch immer Sie als hilfreich ausmachen: Probieren Sie es aus, nutzen Sie es! Egal, ob es zu einem bekannten Rahmenwerk gehört oder nicht. Ein weiteres Organisations-Tool, das bei uns genutzt wird, ist unser Trello-Board. Viele werden es kennen: Die Software gleicht einem digitalen Kanban-Board. Beschriftungen der einzelnen Karten sind jedoch frei wählbar, und die Kolleginnen und Kollegen gehen damit unterschiedlich um, zum Beispiel was Fristsetzungen angeht. Wir nutzen es als Backlog, die Teammitglieder ziehen sich ihre Aufgaben dort nach dem Pull-Prinzip oder nutzen es als To-do-Liste. Jeder nach seiner Fasson.

Machen ist wie wollen – nur krasser

Warum schreibe ich über all das? Weil ich alle arbeitenden Menschen ermutigen möchte, sich nicht von ausgefeilten Methoden abschrecken zu lassen. Es geht ja nicht um Agilität zum Selbstzweck. Agilität ist kein Allheilmittel und jede agile Organisation ist anders, weswegen sie agile Elemente auch je nach Nutzen individuell einsetzen kann. Wenn Sie Ihren Arbeitsalltag menschlicher, effizienter und effektiver machen möchten, tun Sie einfach etwas. Jetzt. Schauen Sie, welches Tool, welche Strukturveränderung Ihnen sinnvoll erscheint, und probieren Sie es aus; lesen Sie sich ein, betreiben Sie Weiterbildung. Aber warten Sie nicht ab, bis Sie Scrum in allen Details verstanden haben, um es eins zu eins Ihrer Organisation, Ihrem Team, Ihren Prozessen überzustülpen. Das ist zu langsam. Das passt nicht. Das ist nicht wirklich agil. Bei uns heißt das: Machen ist wie wollen, nur krasser. In allen Lebensbereichen und damit auch in allen Unternehmen beginnt die (kulturelle) Veränderung mit einem kleinen Projekt. Einem Samenkorn, das wächst und gedeiht und andere Bereiche befruchtet. Neben der Retrospektive darf dabei eines nicht fehlen – der Spaß: an der Veränderung, am Miteinander, an der Arbeit und natürlich dem Resultat, das Sie erzielen.

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Zu Inhalten
Marcus Minzlaff ist seit 2018 Berater bei den HR Pioneers, der Beratung für agile Organisationsentwicklung. Zuvor sammelte er Erfahrung auf diversen Führungspositionen und ging dabei im Rückblick agiler vor, als er dachte. Mittlerweile ist er Scrum-versiert und möchte dieses Organisationstool nicht mehr missen.

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