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„Wir denken darüber nach, wie wir Stoffe digitalisieren können“

JavaSPEKTRUM sprach mit Dr. Bettina Uhlich, CIO beim Spezialchemiehersteller Evonik und Vorsitzende des VOICE-Präsidiums, und mit Heinz-Günter Lux, Senior Digital Strategist bei Evonik, über die Chancen von Blockchain. Was haben Unternehmen im Allgemeinen davon und was die Chemieindustrie im Besonderen.
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Christoph Witte

Chefredakteur IT Spektrum und BI-Spektrum


  • 28.01.2022
  • Lesezeit: 9 Minuten
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Christoph Witte: Sie haben gemeinsam ein Buch über Blockchain geschrieben mit dem schönen Titel „Blockchain – Wirtschaft im Umbruch“. Was war der Antrieb für das Buch?

Uhlich: Zum einen ist die Blockchain natürlich eine revolutionäre Technologie. Zum anderen kann sie uns helfen, viele Herausforderungen im Zusammenhang mit Datenmanagement in der Cloud zu meistern. Das gilt für fast alle Branchen. Außerdem sind uns sowohl in Bezug auf Blockchain als auch hinsichtlich der Chemieindustrie einige „verkürzte Wahrnehmungen” aufgefallen, die wir gern geraderücken wollten.

››Blockchain und Chemie haben mehr zu bieten, als die Vorurteile glauben machen‹‹

Welche sind das?

Uhlich: Zum Beispiel – Blockchain ist gleich Bitcoin und die sind hochspekulativ und außerdem ein echter Energiefresser. Die Chemieindustrie wird von vielen mit Plastik und Kunststoff gleichgesetzt und als Verschmutzer der Meere gesehen. Beide verkürzte Wahrnehmungen oder Halbwahrheiten sind so natürlich nicht richtig. Blockchain und Chemie haben sehr, sehr viel mehr zu bieten, als die Vorurteile glauben machen.

Die Chemieindustrie ist bisher nicht durch IT-Innovationen aufgefallen? Wieso ist das mit Blockchain anders oder wieso sollte es mit Blockchain anders werden?

Lux: Die Chemieindustrie war eigentlich immer innovativ. Leider fallen unsere Innovationen nicht so auf, weil sie in der Regel in anderen Produkten „verbaut“ sind. Beispielsweise in Autoreifen. Da haben wir mit Chemie dafür gesorgt, dass ihr Rollwiderstand und damit der Energieverbrauch etwa von E-Autos erheblich gesunken ist. Oder nehmen Sie Windenergie. Chemie sorgt für die Widerstandsfähigkeit dieser ewig langen Rotorblätter der Windräder.

Uhlich: Die Chemieindustrie ist natürlich genauso wie die allermeisten anderen Nicht-IT-Unternehmen kein Innovator von IT-Systemen, aber wir sind sehr innovativ beim Einsatz neuer IT-Technologien, was uns wiederum zu innovativen Abläufen und neuen Geschäftsmodellen befähigt. Wir nutzen also IT-Innovationen, um selbst Innovationen hervorzubringen, ihre Entstehung zu beschleunigen oder mehr Geschäft mit neu entwickelten Produkten oder digitalen Geschäftsmodellen zu generieren. Jede Industrie kann schon heute ihre Herausforderungen ohne IT nicht mehr lösen. Das gilt natürlich in einer immer digitaleren Welt umso stärker.

Lux: Wenn Sie so wollen, hat die Chemieindustrie schon in den 70ern begonnen, sich zu digitalisieren. Damals kamen die sogenannten Mikrocontroller auf, mit denen unsere Prozessstraßen und Werke heute noch gesteuert werden. Seit den 70ern finden Sie bei uns in den Werken keine mechanischen Regler mehr – das sind seit 50 Jahren vollautomatisierte Systeme. Und es gibt sogar eine gewisse Parallelität zwischen Mikrocontroller und Blockchain. Der Mikrocontroller hat es uns erlaubt, unsere Produktionsprozesse weitgehend zu automatisieren. Die Blockchain ermöglicht es uns, unter anderem mit Smart Contracts die Alltagsbeziehungen mit unseren Geschäftspartnern zu automatisieren, zum Beispiel bei Transaktionen oder dem Austausch von Vorprodukten.

Blockchain – beklagen Sie – wird auf Bitcoin verkürzt. Wozu kann man denn diese Distributed-Ledger-Technologie einsetzen? Gibt es da in der Chemieindustrie besondere Möglichkeiten?

Uhlich: Wichtig ist noch, wir reden hier nicht von einer „public“ Blockchain-Infrastruktur, sondern von sogenannten „permissioned“ Blockchains, die dezentral funktionieren. Das kommt der sehr stark vernetzten Chemieindustrie entgegen. Wir sind mit unseren Kunden eng verbunden bis direkt in die Wertschöpfungsprozesse. Dazu gehören auch viele andere Chemieunternehmen, weil wir häufig deren Produkte entlang der Wertschöpfungskette benötigen, um wiederum unsere Kunden beliefern zu können. Diese Vernetzungen lassen sich in Blockchains, gerade wegen der Möglichkeit zum sicheren Datenaustausch, sehr gut abbilden. Die Daten über Transaktionen oder über die Zusammensetzung und Eigenschaften von Produkten lassen sich so unmanipulierbar austauschen oder verarbeiten.
Für Lieferkettendokumentationen, Transaktionen Geld gegen Ware oder die Produktentwicklung, in der ich verbrieft bestimmte Eigenschaften von chemischen Produkten benötige, beschleunigt oder automatisiert die Blockchain die Abwicklung. Beispiel Impfstoff: Wir liefern für mRNA-Impfstoffe Nano-Lipide. Damit der Impfstoffhersteller weiß, welche Nano-Lipide wir in welcher Spezifikation geliefert haben und das auch gegenüber Dritten, zum Beispiel Behörden, nachweisen kann, können wir die Blockchain-Infrastruktur nutzen.

Die prinzipielle Eignung haben Sie eindrücklich geschildert. Welche konkreten Projekte laufen denn bei Evonik und was haben Sie noch mit der Blockchain vor?

Lux: Wir haben vor 2,5 Jahren gemeinsam begonnen, mit der BASF und der Commerzbank repetitive Geschäftsprozesse zu automatisieren. Wir kaufen seit Jahrzehnten routinemäßig bei der BASF ein und die bei uns. Trotzdem waren da bisher etliche analoge oder manuelle Arbeitsschritte nötig, um diese Verkäufe und Käufe abzuwickeln. Daher waren wir uns schnell einig, dass wir mithilfe von Smart Contracts auf einer Blockchain die Rechnungsprüfung automatisieren können. Weil die Commerzbank dann noch die Idee des programmierbaren Euro eingebracht hat, konnten wir auch die gesamte Zahlungsabwicklung automatisieren. So können wir heute dank Blockchain den Kauf und Verkauf dieser Waren komplett automatisiert abwickeln. Das heißt, wir haben einen geschlossenen Datenkreislauf, ohne dass die Bank bei den Überweisungen eine Rolle spielen muss. Sie übernimmt allerdings die Prüfung der Compliance-Regeln wie etwa Geldwäscheprüfung. Wir sind somit weltweit das erste Unternehmen, das im letzten Jahr drei Millionen Euro auf diese Weise umgesetzt hat.

››Wir schauen, welche Flexibilisierung und Automatisierung wir mithilfe des digitalen Euro und der BlockchainInfrastruktur erreichen können‹‹

Wo liegen die Vorteile des Verfahrens? Haben Sie Prozesskosten einsparen können?

Lux: Uns ging es weniger ums Sparen. Wir wollten eher nachweisen, dass ein digitaler Euro auch relativ leicht in bestehende Geschäftsprozesse eingebunden werden kann. Wir wollten lernen, wie unsere bestehenden Systeme mit einer Infrastruktur integriert werden können, die die automatische Zahlungsabwicklung ermöglicht. Wir wollten sehen, ob wir im Sinne von IoT Zahlungen in Echtzeit realisieren können, ohne dass Zusatzaufwand entsteht. Wir schauen also eher in die Zukunft und schauen, welche Flexibilisierung und Automatisierung wir mithilfe des digitalen Euro und der Blockchain-Infrastruktur erreichen können.

In einem früheren Vortrag haben Sie mal gesagt, dass Siedurch dieses Verfahren auch weniger Cash benötigen?

Lux: Ja, dadurch, dass die Zahlungen direkt abgewickelt werden von Wallet zu Wallet, braucht man zumindest kein „frisches“ Geld. Das ist allerdings eine Besonderheit in der Chemieindustrie, weil hier viele Unternehmen gleichzeitig Kunden- und Lieferantenverhältnisse über längere Zeiträume hinweg unterhalten.

Dr. Bettina Uhlich und Heinz-Günter Lux, © Catja Vedder, Frank Preuss

Die Zusammenarbeit mit BASF und Commerzbank ist das eine Projekt, aber Sie haben mehr vor. Was denn noch?

Lux: Wir denken darüber nach, wie wir Stoffe digitalisieren können. Dass zum Beispiel eindeutig festzustellen ist, ob es sich bei einem Stoff um ein Produkt von der Evonik handelt. Oder, das ist für Kreislaufwirtschaft wichtig, woher kommt ein Stoff und welche verschiedenen Stoffe enthält ein bestimmtes Produkt noch. Nur wenn man Zusammensetzung und Herkunft der Stoffe kennt, kann man sie recyceln, oder wenn das nicht möglich ist, den Verursacher in seine Entsorgung einbinden.

Uhlich: Wir sprechen da vom digitalen Zwilling des Materials. Wir schreiben in Echtzeit die Eigenschaften und Zustände des Materials in der Blockchain mit. Damit hat der Blockchain-Eintrag immer die aktuellen und vergangenen Eigenschaften sowie Zustände des Materials. So lässt sich zum Beispiel nachverfolgen, ob und wo es zu Unterbrechungen der Kühlkette kam und ob diese Einfluss auf die Eigenschaften des Stoffes genommen haben. Da fallen mir viele Anwendungen in der Logistik, in der Kreislaufwirtschaft, im Sourcing oder bei Compliance-Vorgaben wie dem Lieferkettengesetz ein. Die Blockchain wird eine Revolution auslösen.

Wie komplex ist diese Technologie und können Sie sich vorstellen, dass sie auch von kleineren Unternehmen genutzt werden kann?

Lux: Die Technologie ist sehr niederschwellig. Die Kernfragen liegen eher im Verständnis der Geschäftsprozesse und in der Beherrschung der Daten. Natürlich brauchen Unternehmen Unterstützung bei der Programmierung auch von Smart Contracts, aber das ist bei Weitem nicht so komplex wie eine ERP- oder Supply-Chain-Software. Bei denen müssen ja auch die Geschäftsprozesse verstanden und angepasst werden. Das ist auch von den Kosten her überschaubar.

Denkt Evonik auch darüber nach, Blockchain-Infrastrukturals Service anzubieten?

Uhlich: Nein. Wir konzentrieren uns auf die Spezialchemie. Aber natürlich möchten wir helfen, die Technologie weiterzuverbreiten, auch branchenübergreifend, und dazu geben wir gerne weiter, was wir gelernt haben. Nicht zuletzt deshalb auch unser Buch. Ich bin mir sehr sicher, dass es ohne Blockchain in Europa mit der Digitalisierung und dem sicheren Austausch von Daten nicht wirklich gut weitergehen wird.

Lux: Offenbar sieht die EU-Kommission Blockchain auch als sehr relevant an. Bereits seit drei Jahren läuft das Projekt einer europäischen Blockchain-Service-Infrastruktur. In jedem Land sollen sich jeweils drei Rechenzentren darum kümmern. In Deutschland soll eins davon die Bundesdruckerei betreiben. Die Infrastruktur soll von Behörden, wie dem Zoll, aber auch von Unternehmen und Privatpersonen genutzt werden können. Ich bin fest davon überzeugt, dass es eine ganz neue Generation von Dienstleistern geben wird, die diese Technologie auch für Mittelständler nutzbar macht. Wir haben daran großes Interesse, weil wir natürlich auch in einem Ökosystem leben. Unser Wissen hilft nur, wenn es auch von anderen genutzt werden kann.

Letzte Frage. Welche Tipps haben Sie für Leute, die sich intensiver mit Blockchains auseinandersetzen wollen?

Uhlich: Mut haben, starten und neu denken, nicht die alten Prozesse stützen.

Lux: Und niemals versuchen, einen bestehenden Prozess mit Blockchain zu verbessern. Blockchains helfen dabei, alte Prozesse abzuschaffen beziehungsweise durch automatisierte Prozesse zu ersetzen. Zu versuchen, einen bestehenden Prozess zu verbessern, ist dann zu klein gedacht.

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Dr. Bettina Uhlich ist Chief Information Officer beim Spezialchemiehersteller Evonik und Vorsitzende des Präsidiums des IT-Anwenderverbands VOICE e. V.
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Christoph Witte

Chefredakteur IT Spektrum und BI-Spektrum
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Christoph Witte ist Gründer der Wittcomm Agentur für IT, Publishing und Kommunikation. Darüber hinaus ist er Chefredakteur von IT Spektrum sowie BI-Spektrum und wirkt zudem bei dem Magazin JavaSPEKTRUM mit.

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Heinz-Günter Lux ist Teil eines Think Tanks, eines Tochterunternehmens von Evonik, das sich als Innovationsfabrik versteht: Evonik Digital GmbH. Dort arbeitet er als Senior Digital Strategist.

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